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Hat sich das Regietheater überlebt?

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Die vergangene Theaterspielzeit war durch deutliche Verfallserscheinungen des Regietheaters gekennzeichnet. Aber eine neue Theatermode ist nicht in Sicht und auch die großen neuen Texte bleiben vorerst aus. Doch daran sind nicht nur die Autoren schuld.

Für einen neuen Film braucht man meistens auch einen neuen Einfall, und sei er noch so klein, ein neues Drehbuch und daher auch einen Autor, denn jemand muß ja die Sätze schreiben, die die Leute im Film reden.

Das Theater kommt ohne Autor aus. Es braucht Schauspieler, Regisseure, Billeteure, Bühnenbildner, Garderober, Dramaturgen, Intendanten, Sekretärinnen, Elektriker und so fort, nur Leute, die Stücke schreiben, braucht es nicht. Denn wozu haben wir die Klassiker?

Seit Jahren beherrschen tote Autoren in einem vorher unbekannten Ausmaß die deutschsprachigen Theaterspielpläne von Hamburg bis Wien. Fragt man Theaterdirektoren und Regisseure, bekommt man zu hören: Wir würden ja gern interessante neue Stücke spielen, aber es gibt leider keine. Mir klingen noch heute die Worte im Ohr, mit denen Gustav Manker seine letzte oder vorletzte Pressekonferenz als Volkstheater-Direktor eröffnete: „Also, aus is'! Es gibt keine neuen Stücke mehr!"

Die Autoren wiederum klagen, daß sie von den Theatern weniger denn je zur Kenntnis genommen werden. Direktoren und Dramaturgen erklären ja auch jedem, der es hören will, daß sie die neuen Stücke lieber von den Bühnenverlagen als von den Verfassern bekommen, weil die Verlage eine Vorauswahl treffen.

Bei dieser aber bleiben nicht nur die sogenannten Milchmädchenstücke im Sieb hängen. Die Verlage, so die Verteidiger dieses Systems, suchen für jedes Theater das passende Stück, für jedes Stück das passende Theater. Letzteres aber nur, wenn es ihnen ins Konzept paßt.

Bühnenverlage sind Privatunternehmen, bekommen keine Subventionen und handeln danach. Wenn sie einen neuen Trend durchgesetzt und eine Riege auf diesen Trend spezialisierter Autoren groß gemacht haben, sehen sie wenig Anlaß, den Theatern Stücke zu schicken, die gegen diesen von ihnen selbst in Gang gesetzten Strom schwimmen.

Die Zusammenarbeit zwischen gewinnorientierten Verlagen und hochsubventionierten Theatern wirkt also in hohem Maß trendstabilisierend. Autoren und vor allem Autoren-Nachwuchs sind vom Theater abgeschnitten. Noch nie haben Autoren und Theater so wenig miteinander gesprochen. Der Verlag will seine zu Markenartikeln hochgezüchteten Schreiber ungestört vermarkten, und die Theater verlassen sich auf die Verlage.

Dieser Zustand nützt nicht nur den Verlagen, sondern auch den Theatern. Das deutschsprachige Theater will nämlich mit deutschsprachigen Autoren momentan ohnehin so wenig wie möglich zu tun haben. Der Grund dafür wiederum heißt „Regietheater". Und auch das Regietheater ist alles andere als ein Zufallsprodukt.

Bei seiner Entstehung haben vor allem drei Faktoren zusammengewirkt:

• nbsp;Die Politik. Je mehr die Autoren am Theater zu reden haben, desto weniger lassen sie sich vorschreiben, worüber sie schreiben. Ein „Autorentheater", das sich vor allem den neuen Stük-ken verpflichtet und damit denen, die sie schreiben, größeren Einfluß einräumt, riskiert Probleme mit allen jenen, die sich für eine Aufpasserrolle berufen fühlen.

• nbsp;Die Bequemlichkeit. Wie alle Apparate soll auch das Theater reibungslos funktionieren. Leute, die dem Direktor oder Regisseur dreinreden, gibt es schon genug. Der lebende Autor, der sein Stück nicht nur gespielt sehen, sondern auch darüber mitreden will, wie es gespielt werden soll, ist ein besonders lästiger Dreinredner - vor allem im Regietheater. Nur ein toter Autor ist ein guter Autor für diese Art von Theater.

• Der Kampf um die Macht. Machtkämpfe spielen sich nicht nur zwischen einzelnen, sondern auch zwischen Gruppen ab. Schon dadurch, daß sich ein Schauspieler, Regisseur, Autor, Verleger so verhält, wie es seinen Interessen am besten entspricht, stärkt er auch die Stellung seiner Gruppe.

Heute sind die Regisseure die Könige des Theaters. Das Regietheater brachte nicht nur ihnen, sondern allen am Theater Beteiligten außer den Autoren Vorteile.

Regietheater kann aktuell sein. Der Text mag noch so alt sein, jede Zeit findet Möglichkeiten, ihn neu zu sehen. Statt ein neues Stück zu spielen, in dem ein korrupter, machtgieriger Politiker auftritt, wird eben einer von Shakespeares Königen so gespielt, daß jeder in ihm einen korrupten, machtgierigen Politiker von heute erkennt, bloß keinen bestimmten und keine bestimmte Situation.

Im Idealfall erklären alle übereinstimmend voll Begeisterung, der tote Shakespeare oder Nestroy oder Sternheim habe offenbar in die Zukunft schauen können und sein Text sei nach wie vor brisant, und dann war das Theater wieder einmal top-aktuell, mutig und auf der Höhe der Zeit, und das alles, ohne irgend etwas Heutiges wirklich beim Namen zu nennen.

Regietheater als Mittel, etwas über unsere Zeit auszusagen, ist eine Kunst der Andeutung. Andeutung ist nie so anstößig wie das rücksichtslose Aussprechen dessen, was jetzt und hier gesagt werden muß. Regietheater eignet sich glänzend zum Unterlaufen einer Zensur. Bloß haben wir ja keine, sondern etwas in mancher Beziehung Schlimmeres, nämlich eine glatte, unbewußt, aber um so besser funktionierende Selbstzensur.

Als Regietheater-Macher kann man sich als großer Mutiger fühlen, ohne in unserer Gesellschaft wirklich anzuek-ken. Und man braucht sich nicht mit lebenden Autoren herumzuärgern.

Regietheater geht davon aus, daß jeder den Text schon kennt. Daß ist eine seiner Lebenslügen. Werden Text nicht kennt, ist selber schuld. Regietheater ist immer darauf aus, einen alten Hut neu aufzuputzen. Wenn man einen Abend lang kein Wort versteht, und solche Aufführungen gab es, liegt es meist nicht an der Raumakustik oder an den Ohren der Zuhörer oder am Unvermögen der Darsteller, sondern ist ein Stilmittel, einen Text zu verfremden, der dem Publikum schon genau so fad zu sein hat wie ihm selbst, dem Regisseur.

Regietheater kann - trotzdem - unterhalten. Regietheater hat dem Theater neue Möglichkeiten gezeigt. Regietheater kann ehrliches und engagiertes Theater sein. Und einige Klassiker haben ja Zeitbomben geschrieben, die noch nach Jahrhunderten anmaßende Potentaten zu erschüttern vermögen.

Aber die Methoden des Regietheaters, die Arbeit mit einem Großaufwand an Technik und Dekoration, und /oder optischen Einfällen und Gags aller Art, eignen sich nicht sehr gut, einen Text, den noch niemand kennt und auf den daher die Leute horchen und sich konzentrieren sollten, zum ersten Mal auf die Bühne zu bringen. Bleibt das Regietheater sich selber treu, ist der Text in Gefahr, unterzugehen. Steht er aber im Mittelpunkt, verkleinert damit der Regisseur das Podest, auf dem er steht, und gefährdet seine zentrale Stellung im Theaterbetrieb.

Ausnahmen wie Hollmanns Inszenierung der „Komödie der Eitelkeit" von Elias Canetti im Wiener Burgtheater vor etwa zwei Jahren sind leider sehr selten. Sie könnten aber den Weg zu einer neuen Synthese zeigen - sollte jemand daran interessiert sein, einen solchen zu suchen.

Einerseits haben alle jene, die in der erstarrten Routine des Regietheaters weiterwursteln wollen, eine gute Ausrede. Sie können sich darauf berufen,daß neue Stücke, die sich dazu eignen würden, einen neuen Trend zu setzen oder wie immer man derlei nennen mag, einfach nicht zu sehen sind.

Die allgemeine Ratlosigkeit, die neuerdings am deutschsprachigen Theater herrscht, läßt eine Wende vermuten. Immer öfter wird gefragt, wie es weitergehen könnte und sollte. Die Regisseure werden kaum in der Lage sein, die Antwort zu geben. Die kann wohl nur von denen kommen, die nicht zum Theater gehören, von denen das Theater, auch wenn es das nicht wahrhaben will, aber lebt - nämlich von den Autoren.

Daß von dieser Seite bisher auch nicht sehr viel kam, ist nicht ausschließlich den Theatergewaltigen anzulasten, sondern zum Teil schon auch den Autoren selbst. Ein großer Teil der Stückeschreiber und vor allem die jungen sind auf Maschen eingeschworen, die sich zum Füllen jener winzigen Spielplan-Nischen, die das Regietheater den neuen Stücken übrigließ, vielleicht ganz gut eigneten, von denen aber heute keine Impulse mehr ausgehen.

Marx und Horväth, vor allem, liegen einer ganzen Generation von Stückeschreibern halb verdaut und unverstanden im Kopf.

Der Theatermarxismus ist ein auf ein Vorurteil reduzierter Vulgärmarxismus. Dieses Vorurteil besteht in der ungeprüften Annahme, daß die Gesellschaft, in der wir leben, keiner weiteren Evolution mehr fähig sei, weshalb es völlig müßig sei, sich für Konflikte innerhalb dieser Gesellschaft zu interessieren.

Da sie als Ganzes abgelehnt wird, sind Themen wie der Machtmißbrauch, aber auch Konflikte zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen für einen großen Teil der sich als fortschrittlich mißverstehender Stük-keschreiber uninteressant.

Für die Popanze unserer Gesellschaft hat deren Totalablehnung durch potentielle Kritiker eine angenehme Seite: Wie das Regietheater, erspart ihnen auch der Theatermarxismus jede konkrete und sie damit persönlich tangierende Kritik mit den Mitteln des Theaters.

Aber auch die Horväth-Nachfolge hat eine die Scheu der Stückeschreiber vor den für unsere Zeit wirklich wichtigen Problemen verstärkende und damit den Intentionen Horväths diametral entgegengesetzte Wirkung, denn auf Horväth geht die Fixierung vieler Autoren auf die Opfer der den Menschen deformierenden Kräfte und damit sozusagen auf deren Endprodukt zurück.

In dieser Theaterlandschaft wirken Stücke wie „Vor dem Ruhestand" von Thomas Bernhard oder „Groß und Klein" von Botho Strauß geradezu erfrischend, ihre „absurden" Situationen haben mit unserer tatsächlichen gesellschaftlichen Realität mehr zu tun als das Bauern- und Bassena-Elend vom Fließband.

Theater ist immer dann aufregend, wenn es nicht nachbetet, sondern, frei nach Canetti, zu zeigen versucht, was man noch nicht versteht. Ein solches Theater würde heute gebraucht.

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