6807533-1972_16_01.jpg
Digital In Arbeit

Stirbt das Theater?

19451960198020002020

Man könnte es meinen, wenn man der Kritik glauben würde. Aber wer tut das heute noch? Die Frage ist rhetorisch zu verstehen, denn um zu glauben, muß man erst einmal lesen, und — wieder rhetorisch — wer tut das noch? Ein viel gültigeres Argument gegen das Theater, das heißt für die These, es sei dem Untergang geweiht, ist die in den letzten Jahren sich erschreckend häufende Zahl der Mißerfolge und zwar allerorts, zumindest auf der deutschsprachigen Bühne (und um die geht es vor allem) — in Hamburg und in Berlin, in Zürich und in Wien, in Basel und in Stuttgart.

19451960198020002020

Man könnte es meinen, wenn man der Kritik glauben würde. Aber wer tut das heute noch? Die Frage ist rhetorisch zu verstehen, denn um zu glauben, muß man erst einmal lesen, und — wieder rhetorisch — wer tut das noch? Ein viel gültigeres Argument gegen das Theater, das heißt für die These, es sei dem Untergang geweiht, ist die in den letzten Jahren sich erschreckend häufende Zahl der Mißerfolge und zwar allerorts, zumindest auf der deutschsprachigen Bühne (und um die geht es vor allem) — in Hamburg und in Berlin, in Zürich und in Wien, in Basel und in Stuttgart.

Werbung
Werbung
Werbung

Ist es Zufall, hat er doch Methode und führt dazu, daß seit einiger Zeit zahlreiche Theater zusammengebrochen sind, andere seit langem vor dem Zusammenbruch stehen oder eigentlich eben nicht mehr stehen, sondern schon wanken. Das Wort Gleichgewichtsstörung ist in diesem Zusammenhang noch ein Understatement.

Der Grund? Es gibt viele Gründe. Und der entscheidende scheint mir doch zu sein, daß die Theatermacher — viele Theatermacher —, also Dramaturgen, vor allem aber Regisseure, etwas wollen, was das Publikum nicht will. Die Hersteller von Vorstellungen haben sozusagen die Hand am Drücker, sie können zuerst einmal zeigen, was und wie sie es sich vorgestellt haben. Die Zuschauer müssen es nicht, wie weiland Goethes Heideröslein, leiden, sie können auch wegbleiben. Und das tun sie. So einfach ist das.

Dies ist nun beileibe nicht neu. Das gibt es schon seit langem, und darunter verstehe ich ein paar tausend Jahre. Also kein Grund, sich besonders aufzuregen, oder guter Grund, sich immerfort, eben seit ein paar tausend Jahren, aufzuregen.

Die Divergenz zwischen Herstellern und Konsumenten des Theaters kann sehr honorige Gründe haben. Zum Beispiel den, daß der Dichter seiner Zeit voraus ist. In diesem Fall, und den hat es schon immer gegeben, fällt das Publikum durch und nicht der Dichter. Die Reihe der

— vorübergehend — verkannten Genies ist zu lang, um sie hier aufzustellen.

Die Sache mit den verkannten Regisseuren liegt schon anders. Regisseure arbeiten oder sollten arbeiten für das Publikum ihrer Zeit. Wenn sie tot sind, bleibt nichts von ihnen als die Erinnerung oder die Kritiken, die allerdings noch schneller vergessen werden als die Vorstellungen, also sehr bald im Papierkorb der Ewigkeit landen.

Aber wer ist schon seiner Zeit voraus? Wer es ist, kann hoffen, daß das Publikum nachzieht, wenn er Glück hat, noch zu seinen Lebzeiten.

Viel schlimmer ist es, wenn die Hersteller von Theatervorstellungen

— und das sind die Autoren, Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler — nur glauben, sie seien ihrer Zeit voraus. Das kann ja eigentlich jeder, dei Mißerfolg hat. Das bleibt unwiderlegbar, es sei denn, daß dieser Selbstbetrug als Betrug an der Allgemeinheit erkennbar wird. Dann gibt es nicht nur einen Mißerfolg, sondern einen, von dem zumindest das Publikum weiß, daß er verdient ist.

Und, natürlich, eine Pleite.

Ich wiederhole: Das hat es schon immer gegeben. Und das war früher schlimmer. Die Theaterdirektoren Shakespeare und Moliere mußten nämlich ohne Subventionen existieren (Goethe mit einer sehr kleinen), die kleinen und großen Theater der letzten hundertfünfzig Jahre hatten überhaupt keine Subventionen (Ausnahme die königlichen oder gewisse städtische Bühnen). Für die Direktoren der weitaus meisten Bühnen war Erfolg eine höchstpersönliche Existenzfrage.

Es kam also auf das Publikum an.

Es kommt noch immer auf das Publikum an. Das scheint zwar selbstverständlich zu sein, aber die wenigsten Theaterleute haben es begriffen. Es sei unterstrichen, eigentlich müßte man's dreimal sagen: Das Theater lebt nicht von denen, die es machen, und schon gar nicht von denen, die darüber schreiben, sondern vom vielgeschmähten Publikum.

Keineswegs nur aus Gründen der Kasse. Denn für wen sonst wird denn Theater gemacht als für das Publikum? Und wer, außer denen, die es zu sehen bekommen, gibt ihm einen Sinn? Was ist Musik, wenn niemand sie hört? Was ein Bild, wenn es nur noch Blinde gibt? Hier könnte eingewandt werden: Die Leute wollen gar nicht mehr ins Theater, sie sind's zufrieden, vor dem Fernsehschirm zu sitzen. Ach, es gab immer Gründe, nicht ins Theater zu gehen, auch zu einer Zeit, da man hinlaufen mußte und nicht die Sorge hatte, einen Parkplatz zu finden: den Film, das Radio, den Tonfilm, das Fernsehen. Und früher: die Kämpfe der Gladiatoren oder andere sportliche Ereignisse, oder auch die Kirche mit ihrem Prunk, ihrer Musik, ihren Gesten und Umzügen als Theaterersatz.

Trotzdem hat es immer und immer wieder Theater gegeben. Denn das Theater vermittelt dem Menschen etwas, das kein anderes Medium ihm vermitteln kann: sich selbst. Im lebenden Menschen, in seinen Nöten und im Glück. Die menschlichen Probleme, seine Zerrissenheit zwischen Liebe und Pflicht, Gehorsam und Freiheitsdrang, seinen Wunsch, sich zu bestätigen oder sich zu befriedigen, anderen zu helfen, die Welt zu verbessern. Dies alles, weil es dem lebenden Menschen, den lebenden, atmenden Menschen aus nächster Nähe zeigt. Das vermag nur das Theater. Und darum wird das Theater, tausendmal totgesagt, leben, solange Menschen leben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung