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Grillparzer — noch immer umstritten ?

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In einer deutschen Literaturgeschichte für höhere Lehranstalten aus dem Jahr 1878 ist Grillparzer in neun Zeilen, Zacharias Werner in zwanzig und Theodor Körner in hundertundfünfzehn Zeilen behandelt. Das zeigt, wie kraß Grillparzers Bedeutung sechs Jahre nach seinem Tod verkannt wurde. Und später? Karl Kraus bezeichnete Grillparzer als „Österreichs Klassiker für reifere Jugend“, Robert Musil sprach von „pathetischem Kothurn“ und davon, daß er in der Zeit der Flaubert, Balzac, Dostojewski „eine Phase hinter der Welt zurück war“. Rudolf Kassner bemängelte seine Metaphorik, Thomas Mann fand die „Grillparzersche Form“ zwar „klassizistisch-epigonenhaft“, aber doch „wie einer beinahe ironischen Reiz“. Unter den Lebenden sprach Alexander Ler-net-Holenia von Grillparzer als einem „mäßigen Dichter“, Hans Weigel lehnt ihn völlig ab Siegfried Melchinger findet, „Weh dem, dei lügt“ sei ein auf der Bühne „ein wenig läppisches Lustspiel“. Durchschnitts journalister bezeichnen ihn als „Österreichs Renommierdichter“, kennzeichnen sein Werk mit den Worten „Phraseologie“, „Moralinsäure“, „Jambenedelmut“. Und eine bekannt mundfertige Dam warnt sogar: „Wehe dem Schüler, der bei Grillparzer nicht vor Ehrfurcht mit den Zähnei klappert!“

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In einer deutschen Literaturgeschichte für höhere Lehranstalten aus dem Jahr 1878 ist Grillparzer in neun Zeilen, Zacharias Werner in zwanzig und Theodor Körner in hundertundfünfzehn Zeilen behandelt. Das zeigt, wie kraß Grillparzers Bedeutung sechs Jahre nach seinem Tod verkannt wurde. Und später? Karl Kraus bezeichnete Grillparzer als „Österreichs Klassiker für reifere Jugend“, Robert Musil sprach von „pathetischem Kothurn“ und davon, daß er in der Zeit der Flaubert, Balzac, Dostojewski „eine Phase hinter der Welt zurück war“. Rudolf Kassner bemängelte seine Metaphorik, Thomas Mann fand die „Grillparzersche Form“ zwar „klassizistisch-epigonenhaft“, aber doch „wie einer beinahe ironischen Reiz“. Unter den Lebenden sprach Alexander Ler-net-Holenia von Grillparzer als einem „mäßigen Dichter“, Hans Weigel lehnt ihn völlig ab Siegfried Melchinger findet, „Weh dem, dei lügt“ sei ein auf der Bühne „ein wenig läppisches Lustspiel“. Durchschnitts journalister bezeichnen ihn als „Österreichs Renommierdichter“, kennzeichnen sein Werk mit den Worten „Phraseologie“, „Moralinsäure“, „Jambenedelmut“. Und eine bekannt mundfertige Dam warnt sogar: „Wehe dem Schüler, der bei Grillparzer nicht vor Ehrfurcht mit den Zähnei klappert!“

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Dagegen war Hugo von Hofmannsthal von Grülparzer überaus beeindruckt, er verwies auf seine großen politischen Gestalten, auf den Zauber seiner Frauenfiguren. Anton Wildgans bezeichnete ihn als einen der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur und Hermann Bahr hielt ihn für den größten deutschen Dramatiker, er sei eine „Shakes-pearesche Höhe“. Zu den vier Dichtern, die Franz Kafka als seine „Blutsverwandten“ fühlte, zählte Grillparzer. Unter heute führenden Literaturkritikern schrieb Joachim Kaiser ein Buch „Grillparzers dramatischer Stil“, K. H. Ruppel sprach bei „König Ottokars Glück und Ende“ von'einer Vorausnähme Ferdinand Bruckners und Curt Hohofff urteilte: „Grillparzer ist in jeder Hinsicht der moderne Klassiker der Deutschen.“

Es gibt wohl kaum einen Dichter, der hundert Jahre nach seinem Tod noch dermaßen gegensätzlich beurteilt wird wie Grillparzer. Unbegreiflicherweise mißverstehen ihn nach wie vor sehr schätzbare Persönlichkeiten, immer noch hält man ihn fälschlich für einen Epigonen der Klassik, für einen zweitrangigen Dichter aus dem Umkreis Weimars. Ihn nach Goethe und Schiller als Dritten, womöglich in erheblichem Abstand, einzustufen, ist grundfalsch. Er wurde damit, gemäß einer richtigen Behauptung, „auf den Bil-dungsparpaß intellektueller Langeweile“ versetzt, er wurde zur Gipsbüste, die es zu zerschlagen gilt.

Zerschlagen? Es ist das große Verdienst vor ' allem von Germanisten, Grillparzer als einen Antipoden Weimars, als einen Wegbereiter der Moderne, als einen eminent heutig wirkenden Dramatiker sichtbar gemacht zu haben, der über die Dramatik seiner Zeit weit hinausführte. Danach rückt er in seinen Dramen von der Unbedingtheit der Tat ab, es gibt da keinen straffen Funktionalismus, keinen rücksichtslosen Willen zum Ziel. Während Schiller Entscheidungen vorführt, zeigt Grillparzer das Fragmentarische jeder Entscheidung, das Unabschließbare, das Vorläufige, das Vieldeutige in der Abfolge von Ursache und Wirkung, die gehemmte Bewegung. Er erweist sich als zu differenziert, um eine Figur von einer eindeutigen Leidenschaft beherrschen zu lassen, Zwiespältiges und Doppeldeutiges kennzeichnet seine Gestalten, das Gedämpfte und Unaufdringliche wird Szene, unwillkürliche Äußerungen, scheinbar Nebensächliches, Unauffälliges enthält das Wesentliche. Damit entsteht weniger eine Kette von Handlungen als eine Folge von Zuständen, die Problematik des Nicht-handelns wird zum Vorwurf, Ansätze zum heutigen handlungsarmen Drama ergeben sich. Vollends ist Grillparzer ein beispielhafter Magier der Szene, der den stärksten Ausdruck gerne ins Wortlose legt und damit dem Schauspieler, ungleich mehr als andere Dramatiker, die Möglichkeit bietet, sich zu entfalten. *

Diese Sicht herausgearbeitet zu haben, ist vor allem Gerhart Baumann von der Universität Freiburg im Breisgau zu danken, es sind seine Gedankengange, die hier wiedergegeben sind. Doch wurde das neue Grillparzer-Bild maßgeblich auch durch andere Germanisten, so durch Heinz Politzer, Berkeley, Kalifornien, und Herbert Seidler, Wien, erkennbar. Vereinzelt haben Theaterleute ebenfalls jene Vorzüge hervorgehoben, durch die sich Grillparzer von anderen großen deutschsprachigen Dramatikern grundlegend unterscheidet. Der Intendant und Regisseur Gerhard F. Hering, der ein „Plädoyer für Grillparzer“ veröffentlichte, erklärte, er sei einer der größten Meister der Theaterszene überhaupt, bei dem der Mimik, der Gebärde die gleiche Bedeutung zukomme wie dem Wort, während Goethe und Schiller nur den Dialogtext einsetzen. Und der Chefdramaturg Frieder Lorenz bezeichnete Grillparzer als mitdenkenden Regisseur, dessen Texte verdeckte Regiebücher seien, die zu Spielpartituren werden, liest man sie auf die Interpunktionen hin.

Grillparzer selbst dürfte sich, wenn auch nicht voll, so doch weitgehend der unterschiedlichen Wesensart zu den anderen bedeutenden deutschsprachigen Dramatikern bewußt gewesen sein. In der Selbstbiographie erklärt er berechtigt, er halte sich für den Besten, der nach Goethe und Schiller gekommen sei, meint aber in einer Bescheidenheit, der zu widersprechen ist: „Trotz allem Abstände.“ Einige Seiten danach stellt er einen gravierenden Unterschied fest, er war, wie es da heißt, „kein Freund der neuern Bildungsdichter, selbst Schiller und Goethe nicht ausgenommen“. Er zählt also diese beiden zu den Bildungsdichtern. Und im Tagebuch von 1828 notiert er: „Ich fühle mich gerade jenes Mittelding zwischen Goethe und Kotzebue, wie ihn das Drama braucht.“ Einige Zeilen später: „Ich bin Deutscher genug, um mich daran zu ärgern, wenn ich den Theatereffekt erreicht habe. Und doch kann ich nicht anders; eine innere Notwendigkeit hält mein Wesen auf diesen Bahnen.“ Er kann nicht anders. Fassen wir den „Theatereffekt'“ nicht als schmissigknallige Szenenballung, sondern als das eminent Theatergemäße im Gegensatz zu den Akzenten des Bil-dungs- und Gedankentheaters auf. — auch der Hinweis auf Kotzebue deutet wohl dahin —, so ist damit eine, das Material „Theater“ so sehr erfassende Gestaltungskraft gekennzeichnet, mag er auch ebenda grill-parzerisch erklären, ihm sei die Schaubühne verhaßt. An anderer Stelle fordert er theatergemäß: „Auf die Masse soll und muß jeder Dichter wirken, mit der Masse nie.“

Das Verdienst, die Aufmerksamkeit auf diesen neu gesehenen, bisher mißverstandenen Grillparzer weltweit gelenkt zu haben, kommt dem „Grillparzer-Forum Forchtenstein“ zu, das, von Herbert Alsen, dem Intendanten der Burgenländischen Festspiele im Jahre 1962 gegründet, jährlich einmal auf Burg Forchtenstein im Burgenland für mehrere Tage zusammentritt, wobei Heinz Kindermann die Diskussionen leitet. Es waren in den letzten Jahren je etwa vierzig Teilnehmer anwesend, die aus Österreich, der deutschen Bundesrepublik, der Schweiz, aus

Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Ungarn, Frankreich, England, Schottland, Norwegen, den USA und Kanada kamen und zwar Germanisten, Theaterwissenschaftler, Intendanten, Regisseure, Dramaturgen und Kritiker. Dieses Zusammenwirken von Wissenschaftlern und Theaterleuten ist für die Tagung kennzeichnend. Die Vorträge und Diskussionen erarbeiten das neue Grillparzer-Bild, regen Maßnahmen ~an, wie das Werk Grillparzers in dieser neuen Sicht zu fördern sei. Die ; Vorträge und Forschungen erscheinen jährlich als Buchveröffentlichung, Grillparzer-Ringe werden ebenfalls jährlich auf Vorschlag einer Jury des Forums vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst an Theaterleute und Wissenschaftler verliehen, die sich um diesen Dramatiker verdient gemacht haben.

Seit 1890 besteht eine Grillparzer-Gesellschaft, die in den letzten Jahren durch ihren derzeitigen Präsidenten Johann Gunert, der auch Mitglied des Forums ist, einen erheblichen Aufschwung genommen hat. Die von dieser Gesellschaft veranstalteten Vorträge über Grillparzer von maßgeblichen Wissenschaftlern erscheinen in einem Jahrbuch. Gunert ist es gelungen, eine Zweigstelle der Grillparzer-Gesellschaft in Japan zu gründen, der 19 Universitätsprofessoren angehören. In Osaka allein gibt es mehr als 52 Grillparzer-Forscher, fünf Stücke wurden ins Japanische übersetzt, Gunert ist auch die Errichtung einer Dauer-Gedenkstätte für Grillparzer in Spanien, in einer Mühle der La Mancha, zu danken. Diese „Grill-! parzer-Mühle“ gemahnt an die Verbundenheit seiner Bühnendichtung mit der spanischen Dramatik.

Durch Intendant Herbert Alsen wurde die Burg Forchtenstein zu 1 einer Stätte, an der seit 1960 in den Monaten Juni und Juli im Graben vor ihren hochaufragenden Mauern ausschließlich Stücke von Grillpar-, zer zur Aufführung gelangen. Regie . führten Leopold Lindtberg, Heinz ; Dietrich Kenter, Ernst Haeusserman, Franz Reichert, Peter Weck und in den ersten Jahren Otto Ambros. Damit wurden die Stücke Grillparzers , an dieser Freilichtbühne, eine der schönsten Europas, einem breiten Publikum vermittelt, das bisher viel-i leicht nur den Namen dieses Dich-- ters kannte. Die Burgspiele wirken gleichzeitig wie ein Paukenschlag, der die Theaterwelt stärker auf [ Grillparzer aufmerksam zu machen vermag.

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Es geht darum, daß seine Werke vor allem an den führenden deutschsprachigen Bühnen mehr als bisher gespielt werden. Eine Steigerung der : Aufführungszahl ist allerdings zu verzeichnen. Als das Forum gegründet wurde, gab es im deutschen Sprachbereich 80 bis 120 Grillparzer-Aufführungen, in der Spielzeit 1965/66 aber mit acht Werken in 22 Theatern bereits 398. Obwohl Hermann Christian Mettin schon im Jahre 1943, damals Chefdramaturg des Burgtheaters, in seinem Buch über Grillparzer auf die „aus mimischer Phantasie entstandenen Bühnendichtungen“, auf das besonders Theatergemäße und Theaterwirksame dieses Dramatikers mit Nachdruck aufmerksam machte, der „so viel zwischen den Zeilen sagt“ wie kein deutscher Bühnenautor, so begibt sich doch Erstaunliches. Der Bonner Intendant Hans Joachirr Heyse erklärt, er werde keinen Grillparzer aufführen, da seinen Stücker die Bedeutung für heute fehle, Georf Hensel erwähnt, daß Kaiser Rudoli im „Bruderzwist“ in Theaterkreiser als unspielbar gelte, obwohl Werner Krauß in dieser Rolle eine Spitzenleistung geboten hat. und der tschechische Regisseur Jaroslav Dudek, de; vor einigen Monaten „Weh dem, dei lügt“ im Burgtheater inszenierte, gat zu, er habe vordem Grillparzer nichl gekannt.

In dieser Situation wäre es Aufgabe der Wiener Theater, initiath Grillparzer-Aufführungen herauszubringen, die in den räumlichen Gegebenheiten der Guckkastenbühner die neue Grillparzer-Sicht szeniscl umsetzen. Dazu hätte die Feier zu: hundertsten Wiederkehr seines Todes tags am 21. Jänner gebieterisch Anlaß geboten. Als in der Nazi-Zeit, in Jahre 1941, die hundertundfünfzigsti Wiederkehr von Grillparzers Geburtstag gefeiert wurde, gab es in Akademietheater einen Festaben( mit „Alfred der Große“ und mi „Hannibal und Scipio“. An acht Tagen hintereinander wurden in Burgtheater Grillparzer-Stücke ge spielt, außerdem gastierte ai einem Abend Bochum mit den „Bruderzwist“. Im Volkstheate: SDielte man „Treuer Diener“, in Theater in der Josefstadt „De: Meeres und der Liebe Wellen“ Außerdem gastierten die Berline: Komödie und die Berliner Volks bühne mit Grillparzer-Stücken.

Der frühere Burgtheaterdirekto: Paul Hoffmann hatte für die Feie: 1972 einen Zyklus mit — unberech tigter — Ausnahme der „Ahnfrau' angekündigt. Was wird nun unte der derzeitigen Direktion tatsächlicl aufgeführt? Am 21. Jänner sollti eine Neuinszenierung von „Eil treuer Diener seines Herrn“ her auskommen, statt dessen wird dii verfehlte Dudek-Inszenierung voi „Weh dem, der lügt“ wieder gespielt Weder gibt es eine Grillparzer Woche, in der nur seine Stücke dar geboten werden, noch den angekün digten Grillparzer-Zyklus. Volks theater und Theater in der Josef stadt setzen keines seiner Werke au den Snielnlan, auswärtige Bühnei kommen nicht. Fast hat man bei die ser Dürftigkeit im Vergleich zu 194 den Eindruck, daß die Wiener Thea terkanzleien Grillparzer für einei Nazi halten.

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Welcher Unterschied zur Comedii Francaise! Dort plant man zur drei hundertsten Wiederkehr von Mo-lieres Todestag von Ende Novembe 1972 bis März 1973 ausschließlich Mo-liere zu spielen. Man kann sichei sein, daß dies auch durchgeführ wird. Die Comedie Frangaise ist dii Bühne Molieres. Ebenso müßte da: Burgtheater die Bühne Grillparzer: sein. Hier müßte endlich das von der Germanisten so überzeugend Erarbeitete, das fern einer theaterfremden Theorie auf die Praxi: weist, szenisch verwirklicht werden Aber Regisseure, Theaterleiter sin offenbar, von zwei, drei Ausnahmer abgesehen, dermaßen abgekapselt daß sie gar nicht daran denken, siel von der Seite der Wissenschaft he: anregen zu lassen und so einer Aufbruch in den Grillparzer-Insze-nierungen zu bewirken. Es ist nur schon seit geraumer Zeit erforderlich endlich Aufführungen in unserer Theatern herauszubringen, die, au: dem Konventionellen herausgelöst das Antiweimarische, das Heutige ir diesen Werken sichtbar machen, dadurch Aufmerksamkeit erregen unc zur Initialzündung werden für weitere Inszenierungen aus dieser Sich' im gesamten deutschsprachiger Raum und auch darüber hinaus.

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