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Wiens Theater vor der Weihnacht

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Zu Weihnachten lauft in Wien eine Aktion an, die das Interesse aller jener verdient, denen Kunst und Theater noch etwas bedeuten. Wien allein besitzt heute 2000 engage- mentlose Schauspieler. Im vergangenen Jahr sind gemäß einer Mitteilung des Präsidenten der Gesellschaft der bildenden Künstler Prof. May 18 verhältnismäßig junge Künstler verhungert. — „Kunst geht nach Brot : Was dabei herauskommt, zeigen Premieren der Wiener Theater in den letzten Monaten. Um gegen diese Not erfolgreich ankämpfen zu können, haben sich namhafte Schauspieler und Theaterleute zu einem Hilfskomitee zusammengeschlossen, zur Vorbereitung der Aktion „Künstler helfen Künstlern . Prominente Schauspieler und Sänger werden an mehreren Wochentagen in einem Lokal im Zentrum Wiens für ihre mittel- und stellenlosen Kollegen spielen, im Rahmen eines bunten Programms. Durch niedere Preislage, in der Höhe einer Kinokarte, und durch eine von den Schauspielern selbst in den Straßen Wiens besorgte Reklame hofft diese Aktion einen Fonds zu schaffen, den ein Kuratorium verwalten soll: seine Gelder sollen nach einem Schema, das die Qualität des engagementlosen Schauspielers, die Größe seiner Familie und die Zahl der unversorgten Kinder berücksichtigt, zum Teil den Notleidenden direkt zugeführt werden, zum Teil aber für die Umschulung jener Kräfte gegeben werden, die keine Aussicht auf Verwendung im Schauspielerberuf haben. Die erste Veranstaltung findet in großer Aufmachung am 2 5. Dezember im Großen Musikvereinssaal statt. Ein erfreuliches Vorzeichen: Zahl und Qualität der Prominenten, die sich freiwillig für diesen Noteinsatz gemeldet haben, ist so groß, daß die Durchführung eines künstlerischen Non-Stop-Programms von dieser Seite her auf lange Zeit gesichert erscheint.

Vorw ei hnach t spr emieren I Auch ein Kommentar zu dem eben angeschnittenen Thema liefert das Vo Ik s’h ’ a te r mit der alten Komödie W. S. Maughams „Finden Sie, daß Constance sich richtigverhält? Kein Zweifel, das Constance sich nicht richtig verhält, diese mondäne Frau der besten Londoner Gesellschaft, die eben darangeht, ihren Gatten für einen Ehebruch mit ähnlichen Mitteln zu bestrafen. Wer aber kann ihr, der Lustspielfigur vergangener Jahrzehnte, der Bombenrolle unserer Salondamen aus der Krach- und Krisenzeit von 1929, einen Vorwurf machen? Anders steht es mit dem Theater: Nach dem unglücklichen scheinkatholischen „Veruntreuten Himmel' nun diese Amüsierkonserve von vorgestern, an der sehenswert nur die Toiletten sind. Für Männer und Menschen, die sich noch für andere Dinge interessieren, bleibt nichts übrig.

Beachtung verdient die Raimund-Premiere der Scala: „Der Alpe Bkön i g und der Menschenfeind“. Gewiß, der zarte Zauber Raimunds will nicht ’echt aufkommen in der strebsamen Härte dieses Hauses. Man merkt der Aufführung den Schweiß ehrsamer Bemühung an. Dennoch ist die Aufführung sehenswert und mittelt genug, um wieder einmal erkennen zu lassen, daß dieser Raimund zu den tiefsten Werken österreichischer dramatischer Kunst gehört, daß er, hier sei es doch angesagt, über manchem Grill- parzerstück steht. Grillparzer? Der Herr von Rappelkopf trägt Züge von ihm. Dieser Schwierige, Zwiespältige, Unglückliche: lange vor Freud hat Raimund hier eine Psychoanalyse eines charakteristischen österreichischen Typus gegeben, seiner Schwermut und jener Selbstsucht, die Kind und Greis eint. Kein Gott und kein Held, ein ’ -fensch zwischen den Altern und den Zeiten, beladen, belastet mit Schuld und Wahn. Ja, Raimund, der Österreicher, ist in dieser seiner Zeichnung des Rappelkopf zu vergleichen nur mit Dostojewskijs Idiot und Karamasow und, auf der Bühne, mit Ibsens Peer Gynt: nicht mit dem Griegschen romantischen Peer Gynt, sondern jenem der Urfassung, die vor zwei Jah

erstenmal in seinem Heimatland gespielt wurde. Schaukai hat immer wieder darauf hingewiesen: von den größten österreichischen Dichtern enden Raimund und Stifter durch Selbstmord, Grillparzer ist ihm oft nahe. Diese Linie läßt sich auszieben von Lenau bis zu Trakl, vielleicht auch noch zu Weinheber. Es gibt eine spezifisch österreichische Schwermut und Verzweiflung, die aus einer eigentümlichen Mischung von Schuld, Wahn und Eigensinn wächst, in einer Sensibilität, die das eigene Wesen bis in seine letzten Tiefen hinein durchschaut und im Anblick dieser Gorgo tödlich verwundet zusammenbricht, unfähig, sich von dieser geliebt-gehaßten Innenschau zu lösen. Zu schwach, zu gefangen in Ich- und Innensein, um sich erlösen zu lassen (neben dieser echten, natürlichen hier zulande gewachsenene Tragik wirken die Introvertierten eines Sartre künstlich gemacht, affektierte Puppen ihres Stellmeisters). Raimund weiß es aus eigener Erfahrung: Erlösung zur Gemeinschaft, zur Liebe, zum tätig wirkenden Offensein eines Vollmenschentums kann hier nur ein guter Geist wirken. Der Alpenkönig, Erb- kind barocker Heilswelt, spielt alles das, was ein typisch österreichischer säkularisierter Glaube sich an Schutzengel- und Vorsehungsmotiven erhalten hat. Entzückt, ergriffen folgt der Zuschauer von 1949 dem fortschreitenden Heilungsprozeß des Herrn von Rappelkopf durch List, Klugheit und Güte des Alpenkönigs. Mit Bangen fragt er sich, was wird aus diesem in Selbstsucht und Eigenwillen erstickenden Menschen, wenn diese „Vorsehung“ nicht mehr über ihm waltet? Ein gespenstischer Schatten steht heute, hinter dem Wüten und Rasen des seine Generale und Volksgenossen, Verzeihung, seine Familienangehörigen und Bedienten mißhandelnden Rappelkopf.

Raimund, ja und natürlich auch Grillparzer: sie sahen visionär die Genesis der österreichischen Tragödie, deren Ursprung sie tief im eigenen Blut tragen...

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