6557054-1948_27_12.jpg
Digital In Arbeit

Tragödie des kleinen Mannes

Werbung
Werbung
Werbung

Der Beginn der Sommersaison der Wiener Theater überrascht das Publikum mit einem eigentümlichen Schauspiel: mit zwei Komödien, die in ihrer thematischen Anlage und zumindest teilweise auch in ihrer Exposition und Ausführung Tragödien sind.— Es handelt sich um die italienische Komödie „D er einsame Mann” von G hera r d o G h e r a r d i in der „Insel” und um das österreichische Lustspiel „1 0 0.000 Schilling” von Alexander Farago hn Volkstheater.

Beide haben sich im Grund dasselbe Problem gestellt: das bitterernste Lebensschicksal des kleinen Mannes; eines von Hunderttausenden, von Millionen, wie sie morgens von den Büroräumen, Kontoren und Fabriken unserer Städte verschluckt und abends einem verdämmernden, innerlich einsamen Leben wiedergegeben werden. — Vor der Tatsache dieses Lebens, das in der Sorge des Ringens um das Brot für die Familie, für das eigene kleine Heim aufgerieben wird, scheitern alle Weltbeglückungssysteme. — Sie ziehen es deshalb vor, diese Tatsache nicht tur Kenntnis zu nehmen, indem sie dieselbe als „naturgegeben”, als Faktum, stillschweigend hinnehmen. — Und hier folgen ihnen willfährige Diener der jeweiligen Machtherren, Dichter und Literaten …: Das „tägliche Leben” des Mannes aus dem Volke — nein, das ist kein Stoff für sie…

Aber, da sind sie nun, am Ende der Spielzeit, dieser beiden Lustspiele! — Der Italiener verdient unbedingt den Vorzug. Er ist reicher, tiefer, stärker. — „Der einsame Mann” ist ein kleiner Angestellter in einem großen Verlagshaus. Fünfundreißig Jahre ist er mitgeschleppt worden, ein scheinbar völlig überflüssiges Utensil. Ein Stotterer; nicht eigentlich von Natur aus, sondern vom Schicksal, von seinem Stand, von seiner Lebensstellung her… Dieses sein Stottern ist das physische und nahezu auch metaphysische Abzeichen seiner Existenz: seines gedrückten Sdiwebens, seines Hangens in einem kargen nothaften Da-sein, dem jede breitere materielle Grundlage fehlt, seines Bangens vor seinen Chef-Göttern, vor den höhergestellten, klügeren und wendigeren Kollegen… Tragisches Symbol. Dieser kleine Mann hat sein Leben verstottert. Er hat es nie gelebt, weil er es nie ganz zu leben wagte. Durfte er es denn, mit seinem winzigen Gehalt? So bleibt er unvermählt und steht nun bereits mitten im Abendtor seines Lebens. Nun aber überstürzen sich die Ereignisse. Das große Unternehmen kracht zusammen, durch die Gunst persönlicher Beziehungen wird ein junger Angestellter, ein ziemlicher Windbeutel, Generaldirektor; auf sich allein gestellt, muß dieser scheitern. Da rettet ihn seine Geliebte, die Ziehtochter des „einsamen Mannes”: sie, die Frau, das Mädchen hat allein seit langem erkannt, welche Fähigkeiten, welche Begabung, welche Kenntnisse in der Brust des Stotterers verschlossen — begraben liegen… Ist ihm nicht das Schicksal seiner Firma seit Jahrzehnten zum Schicksal des eigenen Lebens geworden? Hat er nicht, für sich, zum „Spiel” alles überdacht, was ihr schaden, was ihr nützen könnte? — Die Liebe des Mädchens ruft ihn — Barnabö, so heißt der einsame Mann, folgt ihrem Ruf und rettet den jungen Mann; um gleich darauf von den beiden Vertretern der jungen Generation verraten zu werden — eine durchaus tragische Situation. Nur dem fanatischen Willen des Autors, dies Drama als Komödie enden zu lassen, mehr aber noch der großen Kunst Paul Kemps gelingt es, das böse Spiel ins Gute zu ver-wenden. Eine Meisterleistung dieses Schauspielers, der hier endlich einmal ganz zeigen kann, was für Quellkräfte eines reichen, von innen her strahlenden Menschentums in der Brust dieses „kleinen Mannes” ruhen, ersetzt, was dem Schlußteil der Komödie an eigener Kraft fehlt. Wie Kemp diesen Barnabo aus einem zerdrückten Kirschkern zum strahlenden Baum eines reifen Menschen, der zum erstenmal sich seiner eigenen Kraft voll bewußt wird, ausfaltet — mächtig im Gezweig und Laubwerk eines neuen selbstwachen Lebens, das ist ein Ereignis auf der Bühne, das man gesehen haben soll, weil es ein großes Geschehen in der Brust eines Alltagmenschen ergreifend sinnbildlich gestaltet. Beglückt wird der Zuschauer gewahr, was für ungehobene Schätze ein Volk „kleiner Leute” besitzen kann, wenn es sein „Menschenmaterial” pflegerisch betreut und nicht als mißachtete Nummern zugrunde gehen läßt! — Paul Kemp, der „einsame Mann”, der Stotterer, der letzte Angestellte rettet also durch seine Arbeit, seine Opfer in Schweigen und Verzicht zugunsten des nun endlich eines Besseren belehrten Jüngling-Direktors die Anstalt, die Gesellschaft, die Komödie.

Ähnlich und ganz anders, Faragos „100.000 Schilling”. Auch hier ist der Held des Stücks ein alter Mann. Buchhalter und Kassier einer Sparkassa. Nach fünfundzwanzigjähriger Dienstzeit wird er zugunsten des Proteges eines Vorstandsmitglieds abgebaut. In seiner Verzweiflung wird dieser „einsame Mann” zum Hasardeur: mit der Angabe, hunderttausend Schilling defraudiert zu haben, setzt er die Direktion seiner Anstalt — eine aus Lebemännern, verkrachten Baronen, minderbegabten Rechtsanwälten und subalternen Geistern sehr gemischte Gesellschaft — unter Druck. Der Kassier-Hochstapler ist bereit, einen beträchtlichen Teil der „veruntreuten” Summe wieder zu beschaffen, wenn die Anstalt seine Forderungen, die sich zum größten Teil auf bescheidene Gehaltszulagen für seine Kollegen erstrecken, annimmt. Was ihm in fünfundzwanzig Jahren kreuzbraver Dienstzeit nicht gelang, gelingt ihm in einigen Stunden eines gespielten Schurkendaseins: aufzufallen, zu imponieren, seine Ziele zu erreichen. Die mit Anspielungen auf die Gegenwart reich- gespickte Aufführung — sie ist auf das Jahr 1937 fixiert, nimmt aber überdeutlich die Miseren von 1948 zur Anreicherung ihres Lachschatzes herein — zeigt deutlich österreichische Züge. Eine Bitterkeit und „Hantigkeit”, das Ressentiment einer säuerlichen Schärfe, die an größere, an Nestroy erinnert. Auch hier rettet der Hauptdarsteller den Erfolg des Stücks. Skraup erspielt sich den Dank nicht nur einer Klasse, eines Standes, sondern jenes ganzen hier zulande weitverbreiteten Menschschlages, der heute geradezu als Symbol unseres Landes bezeichnet werden darf: Skraup ist dieser stille, bescheidene, schweigende Arbeiter, der heute vor den Sitzungszimmern der Weltmächte um sein primitivstes Lebensrecht antichambrieren darf.

Zu diesem modernen Volksstück hat das Volkstheater ein klassisches Volksstück des liberal - bürgerlichen Wiener neunzehnten Jahrhunderts gesellt. Ludwig Anzengrubers „G’w issenswur m”. Oft und oft ist es Anüengruber nachgesagt worden, seine Bauern seien nur Vorstadtliteratur, seine Gestalten nur Auslagenpuppen zur Illustration seiner leitartikel- und feuilletonhaften Thesen einer vergangenen Epoche. Erstaunlich, wie lebendig diese Aufführung! Sie darf mit Recht als ein österreichischer Tartuffe bezeichnet werden: als ein echtes Spiel um die Entlarvung von Scheinheiligkeit und Aberglauben. Spitzen, die einst auf tiefere Gründe zielten, haben hier ihr rechtes und treffendes Kampffeld gefunden: in der Komödie als Enthüllung gemeinmenschlicher Schwächen. Die Schaubühne als moralische Anstalt: wie sehr haben sich diese Forderung des deutschen Idealismus die österreichischen Lustspieldichter des neunzehnten Jahrhunderts zu Herzen genommen…

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung