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Große und kleine Genies imTheater

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Burgtheater, 3. Abend der festlichen Wiedereröffnung, „Torquato Tast o“, Schauspiel in fünf Aufzügen von Goethe. Neu einstudiert und in Szene gesetzt von Raoul Aslan.

An den drei ersten Abenden im neuen Haus des Burgtheaters führten nur Direktoren Regie: nach Adolf Rott und seinem Vorgänger Josef Gielen nun Raoul Aslan, der die Geschicke der Burg in den ersten Nachkriegsjahren leitete. Aslan sei kein guter, wohl aber ein gütiger Direktor gewesen, meinte Rott einmal kritisch. Wir möchten das Wort heute etwas abwandeln: Aslan war dem „Torquato Tasso“ zwar ein gütiger, aber kein guter Regisseur. Selbst einmal — ich habe es nicht mehr erlebt — ein großartiger Darsteller des Tasso, war er jetzt dem Goetheschen Kammerspiel ein nachsichtiger Regisseur, der den einzelnen Schauspielern volle Freiheit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit ließ, der aber nicht die starke Hand zeigte, die erst die verschiedenen Darstellungsweisen zu einer Einheit hätte zusammenfassen müssen. Aslan sagte vor der Premiere, er habe einen „olympischen Stil“ angestrebt; mag sein, daß im Olymp Verse so schön und mit so ruhiger Distanz zitiert werden, ich weiß es nicht. Wenn sie a.uf einer Bühne gesprochen werden, möchte man von ihnen ergriffen und mitgerissen werden, sich selbst vergessen und sich selbst finden können; und das konnte man im Burgtheater nicht. Man fühlte zu sehr die Ruhe des Olymp, die nur gelegentlich von einigen Theaterhustern gestört wurde. Gewiß ist „Torquato Tasso“ ein Schauspiel, bei dem das gesprochene Wort in keinem Verhältnis zur Handlung steht: so sehr geht es über seine unbedeutenden Anlässe hinaus; Goethe selbst nannte das Drama theaterscheu. Man hätte sich daher für eine. Inszenierung etwas weniger Burgtheatertradition und etwas mehr Frische gewünscht. — Fred Hennings war, gelöst und souverän, der kunstliebende Herzog Alfons II. von Ferrara, Alma Seidler, in einem überzeugenden Zusammenklang von Herz und Geist, Leonore von Este, Ewald Baiser erfüllte Antonio Montecatino mit der Wendigkeit und Festigkeit des Staatsmannes, Albin Skoda sprach die Verse Torquato Tassos sauber, aber so, daß man nie glaubte, sie wären, von ihm, Judith Holzmeister setzte für Leonore Sanvitale ihre gräfliche Erscheinung ein. — Angemessener Beifall.

Theater in der Josefstadt: „Kein oder Unordnung und Genie“, ein Stück in sechs Bildern von Jean-Paul Sartre nach Alexander Dumas (deutsch von Marianne Wentzel); Inszenierung: Hans Jaray.

Jean-Paul Sartre schrieb im Programmheft der Pariser Uraufführung des „Kean“: „Alexander Dumas hat offenbar das Stück nicht selbst geschrieben; wenn auch er es war, der die Handlung entwarf und die entscheidenden Szenen mit seiner Phantasie beflügelte. Das ist charakteristisch für diese Schauspielkomödie: nicht einmal die Identität ihres ersten Verfassers steht eindeutig fest.“ Wer hat nun den „Kean“ geschrieben? Sartre doch sicher auch nicht; er hat das vorhandene Stück zeitgemäß adaptiert, einige Monologe Keans, in denen dieser über die Verwandlungskraft des Schauspielers spricht, ein bißchen existentiell gefärbt und die Freude des Mimen, sich mit anderen Gestalten zu identifizieren, philosophisch gedeutet („Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht“). Und wenn es Dumas, der Vielschreiber, der ein Team von Mitarbeitern beschäftigte, nicht War, wer dann? Vielleicht De Courcy, einer dieser Mitarbeiter, dem der französische Schauspieler Lemaitre den Auftrag gab, für ihn ein Stück zn schreiben, in dem er die Person seines verstorbenen englischen Kollegen Kean verkörpern könnte? Oder gar Kean selbst? Halten wir uns an letztgenannten: er hat es erfunden, indem er es gelebt hat; er hat es gelebt, weil er ein Genie war, das all das verkörperte, was uns am Theater fasziniert. Die anderen, von Lemaitre angefangen, der sich später mit dem toten Kean identifizierte, haben nichts anderes getan als nachzuzeichnen. So entstand ein Stück, von dem wir nicht genau wissen, von wem was ist, und das dadurch als Theaterstück par excellence erscheint. Ein Theaterstück par excellence: das ist es auch mit seinen schnellen, geistreichen Dialogen, die sich nirgends fassen lassen und wie Seifenblasen schillern, und seiner stürmischen Handlung, die einen bis zum Schluß nicht los läßt und die man doch nach ein paar Tagen schon völlig vergessen hat. In der Erinnerung bleibt aber eine gewandte Aufführung: Paul Hoffmann als Kean, ein Mime, dem die Nachwelt Kränze flechten wird, Nicole Heesters als Mary Damby, die reizende Käsehändlerstochter, die zum Theater will, um Kean glücklich zu machen und Unordnung und Genie unterzukriegen. Ein Pauschallob und eine Pauschalentschuldigung den anderen Darstellern, die alle genannt werden sollten.

Volkstheater: „Kleines Genie“, heiteres Volksstück in vier Akten von Otto Bielen. Regie: Günther H a e n e 1.

Auch Karl Rabenvogl, Schneidermeister und Erfinder, ist ein Genie. Allerdings ein kleineres als Kean; aber auch er darf sich sehen lassen Und die Unordnung, die bei ihm herrscht, kann sich mit der des englischen Mimen durchaus messen (wenn das Wort freilich bei „Kean“ in anderem Bezüge steht). Das „Kleine Genie“ ist ein Spiel der „Marotteure“: alle seine behaglich-wienerischen Typen haben ihre Marotten und Schrullen, ohne daß sie deswegen ganz und gar weltfremd wären. Bielens Humor ist kräftig und dick aufgetragen; er dürfte für viele, sehr viele Abende ausreichen, wie er schon an die zwei Jahrzehnte überstanden hat. Eine Inszenierung, bei der es keinen Leerlauf gab; ein Ensemble, das, von Karl Skraup bis zu Kurt Sowinetz, von Hugo Gottschlich bis zu Oskar Wegrostek, von Paula Pfluger bis zu Else Rambausek alles mitbrachte und einsetzte, was zu einem heiteren Volksstück gehört.

Neues Theater in der Scala: „Krieg und Frieden.“ Roman von Leo Tolstoi, für die Bühne nacherzählt von Alfred N e u m a n n, Erwin P i s c a t o r, Guntram Prüfer. Musik: Boris B I a c h e r. Regie: Otto T a u s i g.

Ein Theaterstück, das noch auf dem Programmzettel nicht als solches, sondern als Roman gekennzeichnet wird: ein interessantes Experiment also. Daß zwischen der Nacherzählung „für die Bühne“ und dem Roman ein Mißverhältnis besteht, geht schon daraus hervor, daß der Roman etwa 1600, das gedruckte Textbuch aber nur 100 Seiten umfaßt. Es kann also auf der Bühne nicht der Roman, sondern nur ein kleiner Extrakt daraus geboten werden. Und in der Tat wird nicht mehr versucht. Schon der Erzähler, der in einer kleinen Koje im Zentrum der Bühne Platz nimmt, weist auf die Unmöglichkeit hin, dem Roman gerecht zu werden und sagt, daß vieles für die Bühne umgeformt werden mußte. Ueberhaupt die Bühne: sie ist für dieses Stück in drei Ebenen getrennt worden: Einmal in die erhöhte Schicksalsbühne, die im Hintergrund liegt. Auf ihr erscheinen Napoleon und der Zar, die Männer, die Politik machen. Davor die eigentliche Aktionsbühne, auf der gespielt wird. Und ganz vorne die sogenannte „Vorbühne“ mit drei Podien; auf ihnen nehmen — in Sesseln — die Hauptdarsteller Platz: Fürst Andrei Bolkonski (Aladar Kunrad), Komtesse Natascha Rostowa (Hedwig Trottmann) und Graf Pierre Be-suchow (Kurt Bülau). Von hier kommentieren sie das Geschehen, dann, wenn sie nicht aktiv einzugreifen haben. Eines hat die Bühnenfassung (wenn sie auch manchmal etwas mehr „Frieden“ als Tolstoi gab) aus dem Roman herübergerettet: die atemlose Spannung und die Anteilnahme, die man an seinen Personen nimmt. Die eigenartigste Transponierung eines Romans ins Theater, die wir je gesehen haben; als besonderes Ereignis dazu: die Schlacht bei Boro-dino, die'Pierre mit Pappsoldaten auf der Schicksalsbühne aufstellt, verfolgt und kommentiert (hier soll die Schicksalsbühne ausnahmsweise die seelischen Vorgänge des Beobachters Pierre ausdrücken helfen). Der Nachteil bei dieser authentisch wirkenden Form der „Nacherzählung“: daß man jemandem, der das Buch nicht kennt, sagen muß: im Roman ist manches anders.

Das berühmteste Theater und die berühmtesten Schauspieler: Burgtheater, „Torquato Tasso“. Die intimste Bühne und das geistreichste Stück: Josefstadt, „Kean“. Der größte Aufwand und das interessanteste Experiment: Scala, „Krieg und Frieden“. Der Abend, an dem am meisten gelacht wird: Volkstheater, „Kleines Genie“.

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