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Blasse Klassik, rätselhafte Moderne

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Wenn ein junger, hochbegabter Schauspieler sein eigenes Ensemble bildet, um klassische Helden nach eigener Auffassung zu spielen, erwartet man mit Recht, daß die Gestalten aus der marmornen Ferne, in die sie uns allmählich entrückten, wieder in atmende Gegenwart versetzt werden. Auf Goethes „Torquato Tasso“ übertragen bedeutet dies, daß aus der reinen Bildungsdichtung, dem Gedankendrama, dem Erziehungsstück zum Lobe des „edlen“ Betragens, der Schick-lichkeit und des Maßhaltens die Passion des sich selbst verzehrenden, vernichtenden, außer sich geratenen Genies werde; eine menschliche Situation also, die kein Gestern hat, sondern nur immer wieder das Heute, das jetzt und Hier jener genialen Existenz. Im Grunde gibt es nur eine Rolle, die des Tasso mit seiner «»geformten und unformbaren Phaiitasie, in dem ein Rest Sturm und Drang verklingt, Goethes eigenes Modell in sublimster Form. Das Wort steht im Zentrum der Dichtung. Die Gesten sind auf ein Mindestmaß begrenzt. Lichtenbergs, des großen Spötters und Kritikers, Urteil über Garrick, den einst berühmtesten Schauspieler Englands in der Rolle des Hamlet, müßte auch für jeden Darsteller des Tasso gelten: „...da, wo andere Schauspieler in der Bewegung der Arme und Beine sich noch einen Spielraum von sechs und mehr Zollen zu beiden Seiten des Schönen erlauben, da trifft er es mit bewunderungswürdiger Sicherheit und Festigkeit auf ein Haar.“ Oskar Werner, rein äußerlich eine eindrucksvolle Verkörperung des Tasso, mußte in der konventionellen Inszenierung von Josef G i e 1 e n beim Tourneestart im Theater an der Wien den halben Abend über mit der Rechten unentwegt den Zipfel einer blausamtenen Renaissancetoga festhalten, während die Linke aufgeregt gestikulierte. Die Ausbrüche flammender Leidenschaft, das Erhitzte und Besessene, wirkten gekünstelt, die Heftigkeit, die gleich wieder in besänftigte Ruhe zurückgenommen wurde, war nicht weit von routinierter Manier. Hatte Oskar Werner noch etliche gute Momente, so hielten die übrigen Darsteller schwaches

Mittelmaß (Susanne K o r d a t Gräfin Sanvitale, Gert W e s t p h a 1 s Antonio, Erwin Lindners Herzog). Weit unterm Durchschnitt in Mimik und bläßlicher Affektiertheit Gisela Hessenbruch als Prinzessin Leonore von Este. Das stilisierte eintönige Bühnenbild von Stefan H 1 a w a mit seinen schmucklosen Portalen, gerahmten Fensterlöchern und nüchternen Stahlsesseln wirkte wie ein frostiges

Schema. Es war leider ein enttäuschender Abend, auch wenn das Publikum mit Beifall für Oskar Werner nicht kargte.

Die Realität: In der Pension einer kleinen Stadt irgendwo in Osteuropa ereignen sich hintereinander fünf rätselhafte Selbstmorde. Über Ersuchen der Wirtin läßt der Polizeikommissar frühmorgens die Pensionsgäste aus den Betten holen („Am frühen Morgen liegt die Seele noch bloß“), um sie und das Personal des Hauses einem Verhör zu unterziehen. Der Kommissar hält es mit den Tatsachen .und ist überzeugt, daß „die Wahrheit eine ganz schlichte und zweckmäßige Sache ist“. Aber das Verhör fördert andere, völlig wahnwitzige Dinge zutage. Die Männer und Frauen in der Pension sind durchwegs Außenseiter der Gesellschaft, traurige, müde, am Leben verzweifelte Menschen, die zur Wirtin Ursula-Maria Thorp aus aTier Welt hergekommen sind, weil sich hier jeder unbehelligt das Leben nehmen kann. Alle haben sie Angst vor Fräulein Thorp, und alle lieben sie und verehren sie zugleich wie eine Göttin.

Das Rätselhafte: Statt handfester Tatsachen entdeckt der nüchterne, wache Verstand des Kommissars, der die unbedingte Ordnung vertritt, nur unfaßbare seelische Beziehungen. Er will bloß eine klare Antwort auf die Frage, warum die Menschen herkommen, um hier zu sterben. Aber ihre Antworten sind nichts- und vielsagend zugleich. Fräulein Thorp schweigt wie eine Sphinx, und wenn sie redet, dann nur Unbegreifliches. („Ich konnte nicht anders, als mir alle Traurigkeit aufzuladen. Nur die Mittelmäßigen, Beschränkten wissen nicht, was Traurigkeit ist.“) Vergeblich versucht er, die lebensmüden Gäste von ihrer Todessehnsucht zu befreien und ihnen neuen Lebenswillen einzugeben. Alle bestehen auf der Freiheit, ihren Tod selbst zu wählen. Am Ende verfällt auch er der rätselhaften Frau. Er läßt die Pension sperren, die Gäste vertreiben, schmiedet Zukunftspläne mit Fräulein Thorp „zum Wohle der Gemeinschaft“ — und trommelt schließlich wie von Sinnen an ihre Schlafzimmertüre. Damit endet das Stück „G e h doch zu Thorp“ von Francois B i 1-1 e d o u x völlig im Ungewissen.

„Sie warten auf Godot? Dann gehen Sie zu Thorp“, lautete der literarische Scherz eines Pariser Kritikers. Tatsächlich nennt man B i 11 e t d o u x in der Reihe der Becke«, Josnesco und anderer französischer Advantgardisten. Sein Stück gibt sich als Kriminalreißer mit „realer Doppelbödigkeit“ — wobei das Politisch-Weltanschauliche (die östliche Diktatur) nur'am“UandeJ 'erscheint' —, ausgestattet mit intelligenten, brillanten, absurden Formulierungen, die viele Deutungen zulassen: Vielleicht, um nur einige zu nennen, ist das unergründliche Wesen Thorp ein Dämon, der Wächter an der Pforte zum Totenreich oder ganz einfach ein normales Wesen, ehemalige hochdekorierte politische Aktivistin, die mit erschlichenen Erbschaften — denn sie beerbte zugleich die Selbstmörder in ihrer Pension — ein neues Leben beginnen will. Das Stück hält nicht ganz die intellektuelle und dramatische Spannung der ersten Hälfte durch, findet zu keinem rechten Ende, und der unerwartete Farcenschluß wirkt allzu billig.

In der Aufführung im Konzert-haustheater der Josefstadt kommt das dramatische Rätsel unter der Regie von Hermann Kutscher zu voller Wirkung. Dabei gefallen Sigrid Marquardt als geheimnisvolle Thorp, Rudolf Rösnet als seine Ratlosigkeit hinter viel Geschimpfe verbergender Kriminalinspektor, aber auch manche Darsteller kleinerer Rollen. Das Bühnenbild stammt von Erich K o n d r a k.

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