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Das Menschenleben — ein Schauspiel

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Einsiedeln 1970. Kühler Juliabend nach einem heißen Tag. Auf dem großen Platz vor der Barockfassade der weltberühmten Benediktinerabtei strömen aus allen Richtungen Menschen zusammen und streben den breiten, in der letzten Abenddämmerung matt leuchtenden Holztribünen zu. Alle Glocken läuten. Es ist halb neun Uhr vorbei. Die Terrassen der umliegenden Hotels leeren sich. Reiseautobusse stehen in langen Reihen nebeneinander, nachdem die Passagiere, Besucher aus nah und fern, sie verlassen und sich dem Zuschauerstrom angeschlossen haben. Der Halbkreis des Zuschauerraumes — er faßt genau 3200 Menschen —r füllt sich bis auf den letzten Platz. Allmählich wird es still. Der gegen das Dorf schräg abfallende, mit holprigen Steinen gepflasterte Platz vor der Kirche, die eigentliche Bühne, ist noch leer. Plötzlich ertönt Orgelmusik. Scheinwerfer strahlen hoch oben die jahrhundertealten Steinfiguren und die beiden Türme an. Das Spiel beginnt.

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Einsiedeln 1970. Kühler Juliabend nach einem heißen Tag. Auf dem großen Platz vor der Barockfassade der weltberühmten Benediktinerabtei strömen aus allen Richtungen Menschen zusammen und streben den breiten, in der letzten Abenddämmerung matt leuchtenden Holztribünen zu. Alle Glocken läuten. Es ist halb neun Uhr vorbei. Die Terrassen der umliegenden Hotels leeren sich. Reiseautobusse stehen in langen Reihen nebeneinander, nachdem die Passagiere, Besucher aus nah und fern, sie verlassen und sich dem Zuschauerstrom angeschlossen haben. Der Halbkreis des Zuschauerraumes — er faßt genau 3200 Menschen —r füllt sich bis auf den letzten Platz. Allmählich wird es still. Der gegen das Dorf schräg abfallende, mit holprigen Steinen gepflasterte Platz vor der Kirche, die eigentliche Bühne, ist noch leer. Plötzlich ertönt Orgelmusik. Scheinwerfer strahlen hoch oben die jahrhundertealten Steinfiguren und die beiden Türme an. Das Spiel beginnt.

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Es ist ein Spiel von bezwingender Einfachheit. Die Träger der Rollen sind Laienspieler. Sie kommen aus Einsiedeln und aus der ganzen Talschaft. Kein Name wird im Programmheft genannt. Dafür erfährt man die Berufe der Hauptrollenträger. Der Meister ist im Zivilleben Buchdrucker. Die übrigen Rollen sind durchwegs doppelt besetzt. Das Gesetz der Gnade: Buchdrucker, Metallarbeiter. Die Welt: Coifleuse, Hausfrau. Der König: Chemigraph, Bankbeamter. Die Weisheit: Physdo-therapeutin, Schriftsetzerin. Die Schönheit: Postgehilfin, kaufmännische Angestellte. Der Reiche: Hotelier, Postbeamter. Der Bettler: diplomierter Elektroinstallateur, Redaktor. Der Bauer: Buchdrucker, Zivilbeamter. So spielt das kleine Welttheater von Einsiedeln „Das große Welttheater“ des Spaniers, des Spielleiters von Buen Retiro, Don Pedro Calderon de la Barca (1600—1681). Calderön war ein Genie der Dramaturgie. Von ihm sagte Goethe zu Eckermann: „Calderön ist dasjenige Genie, das zugleich den größten Verstand hatte.“ Denn in seinen Stücken gibt es keinen Zug, der nicht für die beabsichtigte Wirkung kalkuliert wäre. Seine Lustspiele haben die Treffsicherheit des Uhrwerks. Der Ubersetzer des großen Welttheaters, Joseph von Eichendorff, bemerkt den Kreislauf, der Calderöns Werken eigentümlich ist: „Bei Calderön ist die Liebe unbedingt der Ehre Untertan und die Ehre empfängt ihre Weihe von der Religion, welche Calderöns Liebe ist...“ Im Spanien von damals war die Weltherrschaft nur noch eine Fiktion. Längst hatten Frankreich, England und die Niederlahde Spanien den Rang abgelaufen. Calderön hält, wie sein Mentor, Philipp IV., auf den Porträtbildern von Velazquez, „in würdevoller Gelassenheit“ an dieser hohl gewordenen Fiktion fest. In solcher Luft, in der die Zeit zu stocken schien, schuf der große Calderön seine Theaterstücke.

Es waren deren 120. Nachdem er 1651 Geistlicher in Toledo wurde, schrieb er keine Lustspiele mehr, sondern nur noch „Auto sacramentales“, Fronleichnamsspiele (insgesamt 70 Stück) und höfische Festspiele. Er war kein Pionier wie Lope de Vega, seine Sache war die Veredelung, die Vollendung. Seit 1635 war Calderön Leiter des Hoftheaters von Buen Retiro. Sein größtes Auto sacramen-tal „El gran Teatro del Mundo“ wurde 1675 erstaufgeführt. Es ist der vollendete Ausdruck der hochbarok-ken Theaterwelt Spaniens. Der Mensch der Barockzeit ist nicht mehr der in sich ruhende, seine Fähigkeiten autonom entfaltende „uomo universale“ der Renaissance, sondern steht wieder in Relation zu Gott und wird an dessen Unendlichkeit gemessen. Calderön, der barocke Theatermann, findet dafür ein Gleichnis: Gott läßt die Welt als Bühne erstehen und verteilt die Rollen. Das Schauspiel ist das Leben der Menschen. Der Tod führt die Spieler von der Bühne ab, und Gott, der große Spielleiter, der Meister, hält Gericht...

Calderöns Barocktheater umfaßt Himmel, Erde und Hölle. Die Bühne weist Türen auf: Wiege und Grab. Die Personen vertreten alle sozialen Schichten der Zeit: vom König bis zum Bettler. Aber es sind nur Rollen, die der Herr und Meister am Anfang des Spieles verteilt. Der Bettler lehnt sich gegen sein Schicksal auf: „Weshalb ward der Armut Pflicht ' Mir zuteil in der Komödie? / Diese nur für mich Tragödie / Und für alle andern nicht? / Warum ich ein armer Wicht?“ Aber er bekommt zu Antwort: „Wähne nicht, ob noch so wild / Dir das kurze Leben grolle, / Daß darum des Königs Rolle, / Hast du deine ausgefüllt,/ Meinem Recht nach höher gilt;' Voller Lohn wird nach Gebühr/ Einst euch beiden, ihm wie dir. /Jede Rolle kann dich heben, / Denn das ganze Menschenleben / Ist ja nur ein Schauspiel hier.“

Calderön führt vollendetes Theater. Das Soufflierbuch ist die Bibel, das Gesetz. Immer wieder ertönt die Mahnung: „Tue recht — Gott über euch!“ Und die „Welt“ fügt warnend hinzu: ,.Hörst du den Souffleur nicht flüstern?“ Der schlaue Bauer aber antwortet: „Bin ein wenig taub zur Zeit.“

Der Dichter will damit sagen: Dem Menschen hat Gott den freien Willen gegeben, damit er sein Los bessern kann. Das wird am Ende voll in Rechnung gestellt. Der Mensch war nicht frei hinsichtlich der ihm zugeteilten Rolle, war aber frei in seinen sittlichen Entscheidungen. Der Bettler und die Weisheit kommen zu Gottes Ehrentisch, der König, die Schönheit und der Bauer müssen, da sie ihre Schuld bereut haben, auf ihre Zeit, im „Fegefeuer büßend“, warten, der Reiche wird ausgestoßen in die „verlorene Nacht“. Die „des Himmels Engelscharen“ stimmen in der Ferne das „Tantum ergo“ an. Gespielt wird dieses Gleichnis vom Leben und Tod und von der Gerechtigkeit Gottes hervorragend. Die Spieler hatten sich seit Dezember in wöchentlich drei bis vier Proben vorbereitet. Ausgesucht und geschult wurden sie bereits seit Jahren in Schauspielkursen und Übungsspielen. Die Musik ist von dem berühmten Schweizer Komponisten Heinrich Sutermeister: sie ist einfach, gedankenvoll, feierlich. Fan-farenmusik, Chöre und Tänze sind ebenso Elemente des Spieles wie das Wort des Dichters und die großartige Architektur. Die gegenwärtige Inszenierung ist ein Werk von Erwin Kohlund aus dem Jahr 1960, ist aber auch dieses Jahr stark erneuert und weiterentwickelt worden. Vor ihm führte der Reinhardt-Schüler Oskar Eberle Regie. Es war eine farbensatte, barocke Aufführung: Fahnenwälder, dämonische Masken, Fackeln, Massenauftritte. Man schrieb das Jahr 1935.

Der neue Regisseur räumte das Beiwerk aus. Das Bild wurde vereinfacht, zwischen Barockfassade und Musik kam das Spiel und somit der dichterische Text voll zur Geltung. Es ist keine modernistische, „zeitgemäße“ Aufführung, sondern ein Spiel ganz im Geiste der Calderon-schen, von Eichendorff übermittelten Dichtung. Jede psychologisierende „Vertiefung“ oder „Aktualisierung“ dieses großartigen Werkes, das, wie jedes Geniewerk, zeitlos aktuell, einfach, ja sparsam in seinen Mitteln und von unmittelbarer Eindringlichkeit ist, hätte die Wirkung zerstört und die Dichtung verfälscht. Es ist ein großes Verdienst der Spielleitung von Einsiedeln, daß das Spiel rein bleibt. So selbstverständlich ist das nicht! Denn dieses tief christliche Werk erschien bereits in den zwanziger Jahren selbst einem Dichter wie Hofmannsthal als ergänzungsbedürftig. So wurde daraus ein Schauspiel, „Das Salzburger Große Welttheater“, in dem sehr wenig vom himmlischen Meister übrig geblieben ist, während der Bettler die Welt verändern will und dabei scheitert. Es wäre geradezu unnatürlich gewesen, wenn im Jahr 1970 bei einem Ereignis wie der Aufführung des „großen Welttheaters“ in Einsiedeln die Neue Linke, hier unter dem Titel „Theater Kollektiv Alternative“, sich nicht zu Wort gemeldet hätte. Anläßlich der Premiere am 13. Juni wurde versucht, durch ein improvisiertes „Straßentheater“ die Aufführung „umzufunktionieren“. In Flugblättern haben die zugereisten Aktivisten ihre Absichten zu erläutern versucht. Sie beklagten, daß das Stück Calderöns auch heute noch „völlig unreflektiert“ und „in einem derart großen und aufwendigen Rahmen“ gespielt wird und daß hinter diesem Bemühen „eine noch sehr mächtige, dem Stück entsprechende, Weltanschauung steht“, die ihre „autoritäre Herrschaft“ durch „Unterdrückung der Triebe“ und Einschränkung der Lebensfreude sichert. Dies verhindere eine gerechte Aufteilung der Güter der Welt und die Beendigung der ausbeuterischen Machenschaften der entwickelten Nationen gegenüber der Dritten Welt. Den Aktivisten hingegen ging es darum, „auf solch schreiende Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen“ und „unter den Zuschauern eine Diskussion über aktuelle Fragen anzuregen. Dieser Versuch wurde aber anläßlich der Premiere bereits nach wenigen Sekunden durch die von den Organisatoren des ,großen Welttheaters' aufgehetzten Feuerwehrleute mit Gewalt verhindert...“ Ein Blick noch auf die Anfänge der Einsiedler Calderön-Spiele und auf die große Naturszenerie ringsherum, deren Schönheit der Abschiednehmende, im Fenster des elektrischen Zuges der Schweizerischen Südostbahn stehend, noch einmal auf sich wirken läßt. Einsiedeln ist uralter christlicher Boden. Der Grundstein zum Benediktinerkloster wurde 934 gelegt. Der heutige barocke Klosterbau und die prachtvolle Kirche sind ein Werk des Einsiedler Laienbruders Kospar Moosbrugger von Au im Bregenzerwald und der Freskenmaler und Stukkateure C. D. und E. Q. Asam. Das Welttheater wurde erstmals 1924 und seither 1925, 1930, 1935, 1937, 1950, 1955, 1960 und 1965 aufgeführt. Die gegenwärtige Spielperiode dauert bis 26. September. Es wird jeden Mittwoch- und Samstagabend gespielt.

600 Laienspieler, Blasmusiker, Sänger, Statisten und Techniker wirken mit. Jeder zehnte Bewohner des Dorfes ist am Spiel aktiv beteiligt. Der Gast, der den Tag bis zur abendlichen Aufführung mit ausgedehnten Spaziergängen im Wald oder am Ufer des nahen Sihlsees entlang und mit der Besichtigung der Wallfahrtskirche, die das größte schweizerische Marienheiligtum beherbergt, verbringen kann, tut gut daran, wenn er auch der großen, modernen Buchhandlung des Verlages Benziger einen Besuch abstattet. Wenn er dann Glück hat, kann er erleben, daß ihm im Gasthaus in der Person der die Speisen auftragenden Saaltochter eine Calderönsche „Weisheit“ oder „Schönheit“ früherer Aufführungen begegnet.

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