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Stadt aus dem Märchenbuch

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Als ich ein Kind war, blätterte ich gerne in meinem Märchenbuch und ich erinnere mich noch deutlich, wie mein Blick gefangen ward von einem bunten Bild. Da war eine Stadt hingemalt; umgeben von blauen Wäldern, lag sie auf einem Berg. Eine mächtige Burg ragte aus ihrer Mitte empor. Eine zinnengekrönte Stadtmauer mit wappengeschmücktem Tor lief um sie herum. Unten im Tal schlängelte sich ein schmales Wasser um den laubverhangenen Stadtberg. Ich sah die Stadt von oben, als säße ich auf einem langsam dahinsegelnden Wölkchen; ich sah den Stadtplatz mit dem plätschernden Brunnen und der steinernen Bildsäule, ich sah die Giebelhäuser, violett, moosgrün, taubengrau und gelb; ich sah die Landleute von der Feldarbeit kommen, bedächtig schwatzend, ich konnte in den engen krummen Gassen, die sternförmig vom Hauptplatz ausgingen, die Handwerker bei ihrem geschäftigen Tun betrachten: die Schmiede und Wagner, Faßbinder und Weber, Färber, Glockengießer, Schneider, Schuster und Zimmerleute.

Es war eine kleine, beschauliche und emsige Welt, die sich vor meinen Kinderaugen auftat, mich bannte und nicht losließ. Nichts Gewaltiges und Prunkhaftes gab es zu sehen! Nichts von Rittern und Drachen, nichts von Bäumen mit goldenen Blättern und Palästen aus rosenfarbenen Korallen — aber gerade darum schloß der Anblick dieser wohlbehüteten, so fernab jeder störenden und feindlichen Gewalt daliegenden winzigen Stadt im Walde alle Sehnsucht meiner Kindheit in sich ein.

Denn ich war ein Kriegskind . . . Aufgewachsen unter dem feuerroten Himmel des ersten Weltbrandes, hatte ich genug von Kampf und Gewalt, sei es zwischen Rittern und Drachen oder unter Soldaten. Ich machte mir nichts aus glänzenden Palästen, seit ich erfahren hatte, daß es Krieg pab, der die Menschen zwang, auch Paläste über Nacht zu verlassen. Dunkel erinnere ch mich noch der gehetzten Flucht meiner Familie, als unser Aufenthaltsort Frontgebiet wurde. Das Gefühl der Schutzlosig-keit, des Gejagtseins, das so vielen Kriegskindern eignet, nistete in mir. Schon damals wurde ich von dem Wunsch nach Geborgensein und friedlicher Ruhe beherrscht. Und dann kam der zweite Weltkrieg! Wieder färbten sich Himmel und Frde blutrot. Die Luft erzitterte von Sirenengeheul und Bombengedröhn, und wenn ich zusammengekauert in einem dunklen Kellerwinke! saß, tauchte in den kurzen Atempausen zwischen zwei Bombenabwürfen eine Vision vor mir auf: die Vision einer friedlichen Waldlandschaft mit einer winzigen wohlbehüteten Stadt inmitten. Unberührt und unversehrt lag sie auf dem Berg, überragt von der Burg, und atmete Ruhe und Geborgenheit.

Als Großstadtkind wandle ich nun durch das zerbombte Wien; wir stehen vor den Trümmern unserer Heimstätten, unserer Kirchen, unserer Arbeitsplätze . . . Dazu der Hunger. Ich hielt es für eine — wenn auch nur kurze — Erlösung, als ich von Freunden in das Waldviertel eingeladen wurde, und ohne viel Erwartung, stumpf und erschöpft, wie wir alle geworden waren, trat ich die Reise an. Und was war das für eine Reise! Statt der Fensterscheiben gab es brüchige Holzverschalungen, die den Waggon verfnsterten, — kaum, daß sich durch einen schmalen Schlitz ein Sonnenstrahl herein verirren konnte ...

Als ich den Zug endlich verließ, glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Ich sah eine Landschaft vor mir: das Wunschbild aus lang vergangenen Kinderzeiten! Sie tauchte auf, die Stadt, meine Stadt, dem Märchenbuch entstiegen! Umgeben von blauen Wäldern, lag sie auf dem Berg. Eine mächtige Burg ragte aus ihrer Mitte empor. Und unten schlängelte sich der Fluß dahin . . .

„Das ist Weitra?“ Meine Stimme zitterte vor Erregung.

Der Bauer neben mir nickte gleichmütig.

Es war kein Traum, es war Wirklichkeit, die ich vorerst noch nicht zu fasssen vermochte: ich schritt durch die Gassen des Märchenbuches, ich kam an einem winzigen Teich vorbei, wo die Gänse wie ein anmutiges, weißberocktes Ballettkorps zu schweben schienen, ich ging durch das wappengeschmückte Tor in der rundumlaufenden Stadtmauer, die Gäßchen liefen sternförmig dem Stadtplatz zu, wo der Brunnen plätscherte und die steinerne Bildsäule stand . . . wie in meinem Märchenbuch! Und auch so bunt bemalt waren die Giebelhäuser mit ihren altertümlichen Vorbauten, und ich trat an ein taubengraues heran, es war mit biblischen Fresken geschmückt und unter den Bildern standen erklärende Sprüche in verschnörkelter Schrift.

Meine Freunde wohnten in einem steingrünen Haus, ich stieg eine gewundene Holztreppe hinauf, ich kam über hallende Vorplätze, die von der unbekümmerten Raumverschwendung früherer Generationen zeugten und es ward mir eine große, angenehm kühle Stube zugewiesen wo in der tiefen Fensternische auf einem erhöhten Tritt ein altvaterischer Lehnstuhl stand. Ich hockte mich hinein und sogleich überkam mich eine wohl'ge Müdigkeit, das Gefühl, endlich heimatlich geborgen zu sein. Müde blinzelte ich zu den Gruppen von Bauern hinunter, die in bedächtigem Schwatz um die Dreifaltic;k;itssäule herumstanden. Darüber das Schloß mit dem klobigen Turm ... Es wurde allmählich dunkel. Von den nahen Wäldern kam würziger Tannengeruch. Ach, welch wunderbares Gefühl! Zum erstenmal verspürte ich: es war Frieden geworden auf Erden...

Und so war es auch an den folgenden Tagen: keine Straßenbahn klingelte aufgeregt, kein Auto zog kreischend die Bremsen, keine Häuserruinen, keine Schutthaufen ... die beschauliche Stadtidylle eines Spitzwegbildes. Mir war, als säße ich wieder auf dem langsam dahinsegelnden Wölkchen meines Märchenbuches und zöge mit ihm in mein Kindheitsland.

Da gab es gleich hinter der alten schönen Pfarrkirche eine Toröffnung in der Stadtmauer, zu der es mich stets von neuem hinzog. Ich konnte einen Blick in die Tiefe tun auf die dörfliche Vorstadt Leder.al, auf einen kühlen Grund, erfüllt von Eichendorff- und Schubert-Romantik. Ich verstand den Wiener Dichter Ignaz Franz Ca-stelli, der sich sommersüber in Weitra zu erholen pflegte; er wohnte in dem behäbigen Patrizierhaus unmittelbar neben diesem Tor, durch das man auf die bäuerlichen Häuser mit den überhängenden Dächern und blühenden Blumentöpfen hinabsah, auf das Wehr, vor dem sich ein Teich staute mit badenden Kindern, auf die Mühle mit dem moosschimmernden Mühlrad: ein Bild, einfältig und voll Frömmigkeit. Fiel ein Sonnenstrahl darauf, erglühte es wie Glasmalerei; mir war, als sähe ich auf ein altes gotisches Kirchenfenster — die Toröffnung, durch die ich hinäbblickte, war ja ähnlich geformt —, wo lächelnde Engelsköpfe an einem hyazinthblauen Himmel über einer biblischen Landschaft musizierten. Als weithin leuchtende blaue Fahnen wehten zum Trocknen aufgehängte Stoffballen durch das Tal: es war der Sitz der Blaufärber.

Emsige Handwerker traf ich auf Schritt und Tritt. Wie in meinem Märchenbuch begegneten mir Kupferschmiede, Pfeifenschneider, Strumpfwirker, Hafner und Wagner. Und ich lernte, am Ufer der Lainsitz hinschlendernd, das Gabrielental kennen. Nichts vom himmelstürmenden, eisstarrenden Felsengezack der Alpen, keine sprühenden weißen Schaumschleier von abgrundtiefen Wasserfällen — altvaterisch lieblich war alles, eine stille Parklandschaft, erquickender Geruch von Wasser und sonnedurchtränktem Laub . . . Alles Kämpferische der Gebirgswelt fehlte; auch das Städtchen selbst war etwa von Salzburg sehr verschieden und ihm doch irgendwie ähnlich. Überrajt die Veste Hohensalzburg d'e Stadt wie ein überschäumend barocker, steingewordener Lobgesang auf den Schönheitssinn ihrer Erbauer, daseinsstolz und selbstherrlich, so ist das Wcitraer Schloß über dem ungleich kleineren und stilleren Städtchen strenglinig und schmucklos, aber wirklich wehrhaft, ein vertrauenerweckender Schutz, mochten die Dächer und Türme auch nur wie eine Gesellschaft kaffeetrinkender Nachbarinnen behaglich und gemütlich beisammenhocken.

Als die kalten Herbsttage' kamen und ich mich schweren Herzens von Weitra trennen mußte, war auch noch die Fahrt in der winzigen Bahn anheimelnd altmodisch: im Waggon stand ein großer eiserner Ofen in der Mitte, Feuer, von mächtigen Holzscheiten genährt, glühte darin, und wir alle stemmten unsere Füße gegen das Schutzgitter, wohlig erwärmt... Und Herzenswärme nahm ich dankbar mit heim aus einer Gegend, von der ich nichts erwartet hatte und die mich so reich im Gemüte beschenkte.

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