6640646-1957_43_06.jpg
Digital In Arbeit

Brighton, Gaitskell, Satelliten

Werbung
Werbung
Werbung

London, im Oktober 1955

Was ist melancholischer als ein herbstliches Strandbad, was poetischer als eine verlassene Strandpromenade? Dichter wie Edith Sitwell, Maler wie Paul Delvaux haben sie für uns nachempfunden — fröstelnd, vereinsamt, traurig und ungewiß, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens. Brighton, die kleine Stadt am Meer mit ihren weißen georgianischen Häuserterrassen, atmet mehr als andere elegant-elegische Stimmung aus. Hier, wo sich sommers halb London auf Streckstühlen rekelt, die Molen füllt, die Buden umdrängt, Zuckerstangen lutscht, Muscheln und Schnecken schlürft, und zuweilen auch einen zögernden Fuß in die Brandung setzt,

hier hängt die Leere und Stille der Nachsaison um so fühlbarer in der Luft. Nicht so freilich in den letzten beiden Wochen. Denn die geschäftigsten, die gesprächigsten aller Bürger des Landes waren in Brighton zusammengetroffen — zuerst die Abgeordneten und Funktionäre der Labour-Partei, dann die der Konservativen, zu ihrer jeweiligen alljährlichen Konferenz.

Wurde in den letzten Septembertagen, nachdem die bisherigen Widersacher Gaitskell und Bevan sich zur allgemeinen Verblüffung in die Arme gesunken waren, von der blaudrapierten Tribüne des Sportstadions aus eine scharfe Kampfansage an das neue Mieterschutzgesetz und die Erhöhung des Diskontsatzes gerichtet, so konnte man in den ersten Oktobertagen diese Maßnahmen am gleichen Orte emphatisch verteidigt hören. Die Bevölkerung von Brighton blieb unberührt. „Diese Woche”, belehrte im Witzblatt „Punch” eine Hotelwirtin ihr Stubenmädchen, „sind wir zur Abwechslung für den neuen Diskontsatz, die Kreditquetsche und das Mieterschutzgesetz.” Gast bleibt Gast! Und an eine Stellungnahme ist gar nicht erst zu denken. Immer lethargischer nämlich wird auch im aufgeweckten England der kleine Mann, und immer weiter klafft der Abgrund zwischen denen, die Politik machen, und jenen, die davon betroffen sind. Liegt dem kleinen Mann etwa persönlich daran, die größte, schönste und mächtigste Wasserstoffbombe zu besitzen? Nicht sehr viel; und noch weniger seit dem Zwischenfall in Windslake, der die Gefahren gewaltiger Atomanhäufungen auf dieser dichtbesiedelten Insel deutlich machte. Doch man erklärt ihm — wie nun auch Bevan, der bis zur Brighton-Konferenz dagegen war —, daß er sie haben und mit seinen Steuergeldern bezahlen muß, und so gibt er sich derm, wenn auch ohne Enthusiasmus, damit zufrieden. Dreinreden darf er ja doch nur, wenn es an die Wahlurne geht. Bis dahin mögen Tories und Labour-Leute Brightons herbstliche Seeluft mit ihren geschliffensten Formulierungen erfüllen! „Zum Teufel beider Sippschaft”, denkt sich der kleine Mann in des sterbenden MercutioWorten. Oder vielmehr „A plague on both their housesl”, was noch drastischer klingt.

Aehnliches denkt er auch mit Hinblick auf den russischen Mond, der seinen Himmel wie den der übrigen Erdenbewohner umkreist. Als die erste nächtliche Nachricht von ihm eintraf, bewährten sich wie immer die englischen Nerven. Im Observatorium von Hurstmonceaux meldete sich eine verschlafene Stimme, die dem erregten Anrufer mitteilte, der Königliche Astronom sei zu Bett und dürfe unter keinen Umständen aufgeweckt werden. „Was immer es ist, wird bis morgen früh warten müssen.” So werden die Engländer eines Tages den Weltuntergang verschlafen! Aber wer sagt, daß es nicht die beste Art ist, in die Ewigkeit einzugehen? Die Redner im Hydepark hatten den neuen Satelliten aucį tags darauf noch nicht zur Kenntnis genommen. Ich war gekommen, um zu hören, was die Stimme des Volkes zu sagen hatte. Doch die Stimme des Volkes war stumm, und von den fünf Rednern, die auf ihren Seifenkistchen standen, sprachen vier über die Bibel, und der fünfte, rezitierte eine schottische Ballade. Später bildete sich in Schenken, Untergrundzügen und Autobusschlangen die öffentliche Meinung deutlicher heraus: „Welches Glück”, so hieß es, „daß Russen und Amerikaner jetzt ihren ganzen Eifer darauf richten, wer als erster den Mond erreicht. So wird es wenigstens bei uns auf Erden Frieden geben.” Niemand schien gekränkt, daß der „Bleep”, wie man den ephemeren kleinen Himmelskörper sogleich wohlwollend taufte, keine englische Erfin- nung ist. Denn mit dem britischen Weltreich ist auch der nationale Ehrgeiz abgebröckelt. Man will seine Ruhe haben. Und seinen Spaß an den Raketengeschossen anderer Länder — so lange sie auf die Stratosphäre, und nicht, wie man es hier schließlich schon einmal erlebte, auf den eigenen Grund und Boden abgerichtet sind.

Die Lethargie erstreckt sich freilich auch auf künstlerische Gebiete. So ist es nicht verwunderlich, daß eine der verdienstvollsten Organisationen zur Förderung des englischen Kulturlebens, der British Arts Council, sich in diesen Tagen gezwungen sah, ihren Jahresbericht als Jeremiade aufzuzäumen. „Die Kunst in der Tinte”, heißt das kleine Weißbuch, und es erklärt unverblümt, daß von den 125 Opern- und Ballettensembles, Orchestern und Theatern unter dem Protektorat des Arts Council nur ein einziges Institut sich nicht „in einem Dauerzustand wirtschaftlicher Unsicherheit” befinde. Sein jährliches Budget beträgt eine Million Pfund — etwa die Kosten eines halben Bombenflugzeuges. Nur 250.000 Pfund — der jährliche Tribut eines einzigen Engländers in der höchsten Steuerklasse — würden genügen, um das Defizit zu decken. Doch es findet sich niemand, vom Finanzministerium bis zu einem privaten Mäzen, der bereit wäre, diese Summe für Englands Kultur aufzubringen. Kein Wunder, daß nun auch Vivien Leigh ihren Kampf um das St.-James-Theater endgültig verlor! Dennoch sind es seine Künste, mit denen ein Volk sich ins Gedächtnis der Nachwelt prägt. Nicht ihre nützlichen und ingeniösen Kanäle, sondern ihre Erfindung der Schrift hielten die Sumerer im Bewußtsein der Menschheit wach. „Und heute”, so schrieb der „Manchester Guardian”, zu diesem Thema, „nachdem Rußlands Satellit ins Nichts zersprüht, wird der Schimmer Tolstois und Dostojewskis, Tschaikowskis und Diaghileffs noch den Erdball umkreisen.”

Im übrigen ist es mild und feucht — ein wahres Kaiserwetter für Bazillen! —, und die asiatische Grippe grassiert. Sicherem Vernehmen nach wurde kürzlich eine Nummer eben dieses „Manchester Guardian”, vielleicht der intelligentesten aller Tageszeitungen, ausschließlich von den Liftjungen herausgegeben, weil der gesamte Redaktionsstab an der Grippe darniederlag. Der kleine „Daily Mirror”, mit seiner auf rechten Gesinnung und seinem exekrablen Geschmack ein kurioses Gegenstück zum „Guardian”, lieferte indessen den besten Kommentar zu eben jenem „Bleep”. Seit Jahren trägt er die stolze Aufschrift „Die größte Tagesauflage auf Erden”. Am Tage nach Bleeps Erscheinen, kurzerhand die globale mit der universalen Sendung vertauschend, druckte er statt dessen „Die größte Tagesauflage im Weltall”. Wahrscheinlich mit Recht! Zumindest kann ihn vorläufig niemand eines Besseren belehren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung