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Versicherung der Zukunft?

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Während der deutsche Wahlkampf in seinen letzten Tagen auf Hochtouren läuft, ruhen die Stimmen von über zwei Millionen Wählern still in ihren Briefen und harren des Tages der Oeffnung. Am 15. September werden sie geöffnet. Diese Briefwahlen, in den angelsächsischen Ländern und Schweden seit langem üblich, in Deutschland neu, ermöglichen es den zahlreichen in „Bewegung” befindlichen Personen, ihre Stimme am Heimatort abzugeben. Ihre Technik darf als ein Symbol für die Tatsache angesehen werden, daß dieser westdeutsche Waffengang von 1957 nebst einigem anderen vor allem auch eine riesige technische Operation ist.

Der Wellengang geht um die Stimmen von fünfunddreißigeinhalb Millionen Menschen. Das sind rund zweieinhalb Millionen mehr als 1953. Zuzug aus dem Osten und die Saarbevölkerung tragen neben den Jungwählern diese Summe. Sechzehn Parteien und an die dreitausend Kandidaten werben um die fünfunddreißig Millionen. Werden sie die Konzentration auf die beiden großen Parteien aufhalten können? 1949 konnten CDU und SPD bereits nahezu zwei Drittel der, gültigen Stimmen für sich gewinnen, 1953 waren es bereits drei Viertel und 1957 rechnen manche mit vier Fünfteln aller Stimmen. Womit eine nicht ungefährliche Ballung von Macht und eine mindestens ebenso gefährliche „Vereinfachung” der großen und hochkomplizierten Fragen der „großen” und „kleinen” Politik geschaffen würde. Gerade die letzten Tage des Wahlkampfes zeigen dramatisch Möglichkeiten der Zukunft auf: eben diese Zukunft wird vom deutschen Volke eine sehr wache, sehr elastische Politik nach innen und außen, hin verlangen.

Die Wähler aber wollen Sicherheit. Sicherheit in der Zukunft. Versicherung der Zukunft. Die Massen wollen wenig wissen von der Schwere und inneren Problematik der da zur Entscheidung stehenden Fragen, die oft mehrere Lösungen zulassen, bessere und schlechtere, optisch eindrucksvolle Scheinlösungen und ein weniger ansprechendes Ringen, das erst in weiterer Zukunft Früchte trägt. Darf das wundernehmen bei einem Volke, das seit dem Dreißigjährigen Krieg weltpolitisch in die Enge gedrängt, nur kurze und fragwürdige Siege, schwere Niederlagen und Rückschläge und niemals in seiner ganzen Geschichte, seit den Hunger- und Notjahren der Völkerwanderung, im Jahrtausend des Heiligen Römischen Reiches und auch im Wilhelminischen Kaiserreich nicht, einen so breiten Wohlstand breitester Volksschichten kannte wie heute, knapp zehn Jahre nach seiner größten Niederlage?

An diesem Wohlstand nehmen Industrielle und Arbeiter, Katholiken, Protestanten, Gottgläubige und Atheisten, nehmen Sozialisten und Liberale, Kleriker und Gewerkschaftsfunktionäre teil - und sie praktizieren ihn in ihrem persönlichen Lebensstandard weithin auf dieselbe Art und Weise, in Urlaub, Reise, Arbcits- und Wohnkultur. Das innere Dilemma beginnt eben da: alle, das heißt eben jene vier Fünftel der westdeutschen Gesellschaft, die am „Wirtschaftswunder” teilnehmen und seine Früchte genießen, sind fest entschlossen, das Erworbene zu halten. In diesem Sinne darf eine innerste Uebereinstimmung breitester Kreise dieses westdeutschen Volkes festgestellt werden wie nie zuvor. Die Kluft entsteht erst bei der Frage: wie ist dieses Leben und dieser Lebensstandard zu sichern? Wie kann ein Mensch, der sich gewöhnt hat, in diesen letzten Tahren an die Versicherung seines Lebens, seines Wagens, seines Eigenheimes, seines Urlaubes, der Ausbildung seiner Kinder, wie kann er diese immer komfortabler gewordene Versicherung durch eine politische Versicherung seiner Zukunft garantieren?

Der ungeheure Erfolg des „Führers” bestand einst eben darin, daß dieser Mann es verstand, die emotionalen, von der Weimarer Demokratie unbetreuten Kräfte des deutschen Volkes anzusprechen, so daß ihm die Nation ihr Vertrauen schenkte: dieser Mann garantiert uns eine ungestörte Arbeit und Sicherheit unseres Verdienstes für die Zukunft. Kein Geringerer als Alfred Krupp von Bohlen-Halbach hat freimütig, in schöner Offenheit, dies 1946 vor dem Alliierten-Gericht einbekannt.

Der „Alte” ist kein „Führer”. „Das Schlimmste sind die gläubigen Augen”: so bekennt er im kleinen Kreis am Abend nach einem Tage der Wahlschlacht.

Der ungeheure, überwältigende Erfolg des „Alten” beruht wohl darauf, daß dieser achtzehnfache Größvater den Massen eine Rehabilitation ihrer tiefsten Gefühle und Seelenkräfte ermöglicht: nicht eine Rehabilitation des Führers, wohl aber der von ihm Geführten. Hier ist der Mann, so spricht es aus den leuchtenden Augen, der unser Vertrauen verdient, der es sich verdient hat: er hat, für uns, ein gequältes, in Angst und Sorge lebendes Volk, die ungeheure Last der Verantwortung übernommen. Er trägt, für uns, die Verantwortung in einer Welt, in der im Grunde sich keiner mehr auskennt: in einer Welt, die voll von Gefahren und Versuchungen ist.

„Meine lieben Landsleute! Seit acht Jahren trage ich die Verantwortung für die deutsche Politik. Heute wende ich mich an Sie, um Ihnen für das Vertrauen zu danken, das Sie mir in dieser langen und schicksalsschweren Zeit’ geschenkt haben.” So beginnt ein Werbebrief Zur Bundestagswahl,, im Postwurf in fünfzehn Millionen Exemplaren an die deutschen Haushalte verteilt, der die schlichte Unterschrift trägt: „Ihr Adenauer.”

An die Stelle des Führers ist ein Vater getreten. Ein Vater, der Autorität, Ruhe, Sicherheit, Lebensstandard garantiert, der verspricht, keine Experimente zu machen (ein seltsames Versprechen für ein junges Volk in einer Welt sich täglich verjüngender, erwachender Völker, in dem sich nur der behaupten kann, der täglich Neues wagt: so etwa im kleineren den Bau des Hansa-Viertels in Berlin).

Diesem Vater gegenüber, der das seit Generationen unbefriedigte Verlangen breitester Volksschichten nach einem wahren Landes-Vater, Landesherrn, einem „Kaiser” und „König” befriedet, hat die Opposition einen schweren, auf den ersten Blick fast aussichtslosen Stand. Der kleine, dickliche, in der Ausarbeitung seiner Reden ungemein gewissenhafte Ollenhauer, der, nach einstündiger Rede ermattet, erschöpft sich in sein Hotelzimmer zurückzieht, ist diesem Erscheinungsbild offensichtlich nicht gewachsen. Die SPD verzichtet, als einzige deutsche Partei, im Wahlkampf auf das Spielen und Singen des Deutschlandliedes, das auch die müdesten Veranstaltungen noch zu beleben vermag. Erich Ollenhauer verzichtet in seinen Wahlreden darauf, sich auf den rlaupt- schlag(er) seiner Partei zu berufen: „Wer Adenauer wählt, wählt Atomtod.” Die tragische Ueberspitzung und Verklemmung der innerdeutschen Situation kann durch nichts deutlicher angezeigt werden als durch dieses Schlagwort. Hier ist ein Kampf um den Vater entbrannt. Dieser kann, so scheint es, nur durch eine Art „Vatermord” beseitigt wer den: durch seine Ausschaltung und Diskreditierung.

Der deutsche Wahlkampf wird, so scheint es, nicht um die fünfhundert neuzuwählenden Abgeordneten des Bundestages geführt, um eine sorgfältige Darstellung der sehr verschiedenartigen und vielfältigen Interessen, Anliegen, Sorgen und Aufgaben der Gruppen und Personen, die doch erst in ihrer lebendigen Spannung das wahre Potential des deutschen Volkes bilden, sondern um diesen einen Mann.

Das Schicksal der kleinen Parteien wird weniger von der Wahlhilfe ihrer großen Verbündeten abhängen (so stützt die CDU die Deutsche Partei, die CSU die „Christliche Volkspartei” im Saarland — durch eine Fusionierung —, während etwa die SPD Bayernpartei und Zentrum in Bayern als „Föderalistische Union” unter ihre Fittiche genommen hat) als von Sentiment und Ressentiment der einzelnen und der Massen für und gegen den „Vater”. Für den „Vater” orientieren sich neben den Hauptmassen der Katholiken starke wahlverwandte, nicht artverwandte Gruppen sehr verschiedener Herkunft: autoritäre Rechtselemente,

„liberale Unternehmer, Nationalisten gemäßigter Provenienz, Beamte, Militärs und Angehörige aller jener Berufe und Gruppen, die an einem starken Vater-Bild orientiert sind. Die Frauen spielen da eine außerordentliche Rolle: nicht nur in ihrer Ansprache zeigen sich hier Parallelen zum letzten amerikanischen Wahlkampf, in dem eine als notorisch „vaterlos” bekannte Gesellschaft den General Eisenhower wählte, um in schwerer Zeit einen Vater als Schirmherrn zu gewinnen.

Ebenso bunt ist die wahlverwandte, nicht artverwandte Gesellschaft der Vater-Gegner. Offensichtlich hat sie ihre Zentren im deutschen Südwesten, in den Stammländern des Pietismus und Liberalismus, umgreift aber auch nationalistische Kreise, die, gegen den Alten, für einen Uebervater und Führer plädieren, und ebenso altsozialistische und ältere katholische Gruppen, die noch in der - Tradition des Zentrums und seines Kampfes gegen den damals preußischen Vater und sein zentralistisches Beamtenregime und Militärregime stehen.

Am 15. September wählt Westdeutschland. Für den „Vater” und gegen den „Vater”. Diese Option wird die Zukunft stark beeinflussen, wird aber eben das nicht vermögen, wie immer sie ausfallen mag, was die Parolen dieses Wahlkampfes versprechen: die Zukunft zu sichern.

Eben deshalb wird gleich nach der Wahl die notwendige Enttäuschung einsetzen müssen: die Enttäuschung der Sieger und der Besiegten. Von dieser Aufgabe der Demokratie und der Freiheit in Deutschland wird demnächst zu sprechen sein: am Tag nach der Wahl.

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