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Die Vision Pieter Brueghels

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Die Südwand des Grazer Domes zeigt ein verwittertes Fresko: das steirische „Landpiagenbild“. Ein spätgotischer Maler schildert darin das Unheil, das im Jahre 1480 über das „Hertzogtumb Steyr“ hereinbrach und das Land an den Rand des Abgrundes brachte. Der Türk ist auf dem Bild zu sehen, die Pestilenz und die Heuschrecken.

Ein holländischer Maler, der vielleicht nach Jahrzehnten die Aufgabe erhält, die Südwand eines niederländische» Domes mit einem Fresko zu schmücken, kann in Nachahmung des steirischen »Landplagenbildes“ ein holländisches „Landplagenbild“ schaffen. Denn drei große Katastrophen überfielen zwischen 1940 und 1953 das kleine Land am Meer. Die erste: der Krieg 1940 bis 1945, der ein Drittel des gesamten Volksvermögens vernichtete, die Menschen vor Hunger in den Städten tot zusammensinken ließ, die Häfen zerstörte, das Land mit Meerwasser überflutete. Die zweite: der Kolonialkrieg von 1945 bis 1948, der trotz aller militärischen Siege den Verlust eines Imperiums brachte — es war sechzigmal größer als die Heimat gewesen, hatte den Menschenüberschuß aufnehmen können und den Grundstock eines immensen Reichtums dargestellt. Und dann die dritte Katastrophe: die Springfluten der letzten Tage, die ein Sechstel des Landes überschwemmten, eine Million Menschen zur Flucht zwangen, tausende Menschenleben vernichteten, die Deiche zerstörten, die Dämme zerbrachen, die Häfen vernichteten.

Wer jemals aus dem Flugzeug auf dieses kleine Land gesehen hat, der weiß, wie sehr das Schicksal dieses kleinen Landes das Wasser ist. Das Wasser, das durch das Land zum Meer fließt, und das Wasser, das vom Meer ans Land rollt. Ein Fünftel des ganzen „Landes“ besteht aus Wasser. Fast die Hälfte des Landes, sagte eine amtliche Statistik, stünde unter Wasser, wenn nicht Dämme und Deiche die Gewalt des Wassers zähmen würden. Mit unendlichem Fleiß und stiller Zähigkeit wurde diesem Wasser immer wieder ein Stück Land abgerungen. 5800 Quadratkilometer hat im Laufe der Jahrhunderte das Wasser überschwemmt, 6000 Quadratkilometer hat der Niederländer sich durch ein kunstvolles System vqn Kanälen, Deichen, Dämmen, Entwässerungsanlagen, Pumpen, die jahrhundertelang von Windmühlen betrieben und erst in neuester Zeit durch elektrische Anlagen ersetzt wurden, zurückerobert. 38 Prozent des Landes liegen unter dem Meeresspiegel. 8000 Kanäle führen durch das Land. 75 Prozent aller Lastentransporte gehen über den Wasserweg.

Wasser, Wasser, wohin immer der Mensch blickt, Wasser, gebändigt seit Jahrhunderten, ruhig seit Jahrhunderten, immer weiter zurückgedrängt seit Jahrhunderten — und nun plötzlich wieder seine furchtbare Ueberlegen-heit über alle menschlichen Werke zeigend.

Im Wiener Kunsthistorischen Museum ist unter den vielen Brueghel-Bildern — dem Stolz der Wiener Sammlung — eines, das ejnen Sturm an der holländischen Küste mit einer Grauenhaftigkeit zeigt, wie sie nur Breughel malen konnte. Ein Bild, das nur Phantasie schien — und nun, fast fünf Jahrhunderte, nachdem Brueghel diese Vision auf die Leinwand gebannt hat, entsetzliche Wirklichkeit wurde.

Aber neben dieser schauerlichen Vision Brueghels wurde noch eine andere Vision Wirklichkeit, eine Vision, die die Menschen sonst nur in ihren lichtesten Stunden träumten: die Vision von der Einigkeit der Völker in der Liebe und Hilfe füreinander. Amerikaner, Briten, Kanadier, Deutsche sandten Hilfe. Die Türkei, die ostasiatischen Staaten, der Vatikan, die mittelamerikanischen Länder, Israel boten ihre Hilfe an, Finnland ebenso und Italien. Und das kleine, arme Oesterreich, das nun endlich die Gelegenheit hat, einen Teil seines Dankes für tausendfache Hilfe in großer Not abzustatten. 10.0.000 Schilling spendeten die österreichischen Diözesen, einen Zug Bauholz die Bundesregierung, 500.000 Schilling die Gemeinde Wien, 100.000 Schilling der Gewerkschaftsbund, über 200.000 Schilling die großen Parteien. SOS erließ einen Aufruf, bei den Niederlassungen der KLM in Oesterreich, ebenso bei jenen der Firma Philips, im Büro der Oesterreichisch-Niederländischen Gesellschaft häufen sich die Spenden, kommen Kinder und leeren ihre Sparbüchsen. Inmitten des heftigsten Wahlkampfes rücken die Oesterreicher zusammen — in der Hilfe für dieses kleine Land am Meer.

So wird der niederländische Maler, der einmal das holländische „Landplagenbild“ malen soll, nicht nur die große Not und Niederlage, sondern auch den großen Sieg ins Bild bannen können. Schon als der Hafen von Rotterdam gesprengt wurde, setzten sich die Niederländer zusammen und beschlossen seinen schöneren und größeren Wiederaufbau. Als das Kolonialreich verlorenging, warf die mutige Nation entschlossen das Steuer herum und schuf sich ein neues, unsichtbares Imperium des Handels, des Exports. Und als die Vision Pieter Brueghels wahr wurde und die Springfluten über das Land rasten, da sprang wie eine andere Springflut die Hilfsbereitschaft aller Völker auf und bewies, daß doch der Friede und nicht der Krieg der Vater aller Dinge sei.

Kunden verlangen kann, statt ihm mit dem Recht des Stärkeren ein „Ding“ aufzubrummen, das weder recht — noch billig ist?

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