6559012-1948_38_06.jpg
Digital In Arbeit

Warum Psychotherapie?

Werbung
Werbung
Werbung

Der Psychologismus der Gegenwart hat immer wieder versucht, im Geiste Nietzsches das Problem der Moral in die Psychologie einzubeziehen, und ist dabei letzten Endes zu dem Resultat gelangt, die Moral überhaupt aufzuheben. Wenn die moralische Haltung eines Menschen nur in seinem psychologischen Wesen begründet ist, dann kommt den moralischen Impulsen natürlich keine objektive Gültigkeit mehr zu, sondern, was der einzelne für gut und böse hält, bleibt ausschließlich seiner subjektiven Entscheidung überlassen. Damit wird die Moral selbst Gegenstand der Kontroverse zwischen verschiedenen Gruppen, hinter denen verschiedene „Weltanschauungen“ stehen, die jede für sich aus ihren eigenen Grundprinzipien oft völlig gegensätzliche moralische Forderungen ableiten.

Dieser psychologisierenden Auffassung hat sich vor allem der Gründer der Tiefenpsychologie, Siegmund Freud, angeschlossen, indem er die moralischen Impulse aus einem rein subjektiven „Über-Ich“ ableitet, wodurch der Glaube an die objektive Ver bindlichkeit dieser Impulse sich als bloßer Schein darstellt und dem einzelnen das Recht zugebilligt wird, sich die Gesetze seines Lebens selbst zu geben. Ja mehr noch: da das ausschließlich auf biologischen Grundlagen aufgebaute Denksystem Freuds die gesamte Psychologie auf Triebimpulse begründet und die Befriedigung des Triebes als das allein wertvolle Lebensziel erscheint, so erweist sich ihm schließlich die Moral selbst als Scheinbarkeit, die dem Menschen bei Erreichung dieses Zieles nur hinderlich im Wege steht. Dennoch verdanken wir Freud neben anderen sehr wichtigen, wenn auch immer wieder falsch gedeuteten Erkenntnissen vor allem eine Einsicht, deren umfassende Tragweite ihm allerdings verborgen blieb. Er hat nämlich festgestellt, daß eine bestimmte Form der Neurose, nämlich die Zwangsneurose, auf einem verdrängten Schuldgefühl beruht.

Unserer Meinung nach kommt nun dieser Erkenntnis eine viel allgemeinere Bedeutung zu. Denn es will uns scheinen, daß das gesamte psychische Leben des Menschen sich letzten Endes darstellt als das Gegeneinanderspiel der Triebe einerseits und der moralischen Impulse (die Imperative, um den Ausdruck Kants zu verwenden) anderer- eits. Ist nun dieses Widerspiel in der Weise gestört, daß die Konflikte dieser beiden Seiten nicht mehr bewußt ausgetragen, sondern ins Unterbewußte verdrängt werden, so entsteht jenes Phänomen, das die Medizin eit langem kennt, in seinem wahren Wesen aber niemals erfaßt hat: die Neurose.

Es ist nun allerdings kein Wunder, daß die heutige noch immer fast ausschließlich auf materialistisch-biologischen Grundlagen aufgebaute Medizin den hier in Rede stehenden Phänomenen ebenso theoretisch verständnislos, wie praktisch hilflos gegenübersteht. Das gleiche gilt aber im Grunde auch noch von aller medizinischen Psychologie Freudscher Orientierung. So hat noch in jüngster Zeit Walter Hollitscher eine Broschüre, „Über die Begriffe der psychischen Gesundheit und Erkrankung" veröffentlicht, die die völlige Insuffizienz des biologischen Denkens auf diesem Gebiete in der eindeutigsten Weise dartut. Nach mehreren Seiten logizißtischer Haarspaltereien kommt Hollitscher schließlich zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß das psychische Kranksein in einer Störung des Selbst', beziehungsweise Arterhaltungstriebes besteht, worauf sich dann eine Diskussion darüber anschließt, ob ein verliebter Mensch als psychisch gesund oder krank zu bezeichnen sei. Es scheint bei einem solchen nämlich die Selbsterhaltungsfunktion schwer gestört. Dennoch entscheidet sich Hollitscher schließlich für die erste Alternative, weil nämlich das Verliebtsein zwar nicht für die Selbst', wohl aber für die Arterhaltung von Nutzen sei. Zu welchen ethischen Konsequenzen eine solche biologische Auffassung gelangen muß, braucht hier gar nicht mehr ausgeführt zu werden.

Leider ist auch Freuds Schüler. C. G. Jung letzten Endes im biologischen Denken hängengeblieben. Gelangt Freud zu dem Resultat, daß die Religion eine Illusion sei, sO wurde sie für Jung wenigstens zur „psychologischen Wahrheit“. Wir sehen hier aber der Religion gegenüber genau denselben Subjektivismus, wie bei Freud gegenüber der Moral. Und den Ursprung dieser „psychologischen Religion“ sucht Jung wieder im Biologischen. Die religiösen Vorstellungen scheinen ihm in der Erbmasse begründet, durch die ,archaische Gottesbilder“, die einer fernen Vergangenheit der Menschheitsgeschichte angehören, dem einzelnen im „kollektiven Unbewußten“ übermittelt werden, aus dem sie dann gelegentlich in Gestalt von Träumen ins Bewußtsein treten. Trotz dieser Irrtümer glauben wir, daß gerade die Jungsche Psychologie einen sehr bedeutenden Fortschritt insofern darstellt, als sie überhaupt das religiöse Problem in die Psychologie einbezieht und der Religion einen, wenn auch nur relativen Wert beimißt. Es zeigt sich, daß es nicht bloß eine verdrängte Sexualität wie bei Freud, sondern auch eine verdrängte R e- 1 i g i o s i t ä t gibt. Es wird aber nun wohl jedem klar ein, welche ungeheure Bedeutung die Aufhebung einer solchen Verdrängung nicht bloß für neurotische Personen, sondern auch für Gesunde besitzen muß. Und dazu hat nun Jung, wenn er auch in letzten Dingen irrt, in seiner Methode der Traumdeutung die entscheidenden Mittel geliefert.

Von der Seite der Moral aber hat der deutsche Psychologe Fritz Künkel mit seiner „Gharakteranalyse" durch eine außerordentliche Vertiefung der Adlerschen Individualpsychologie einen sehr wertvollen Weg gewiesen, ohne allerdings das Problem der Religion direkt zu berühren. Er zeigt nämlich, daß das Individuum nur durch eine dauernde Eingliederung in eine überindividuelle Gemeinschaftsordnung unter Aufgabe seiner eigensüchtigen „ichhaften" Ziele Sinn und Wert bekommt und daß nur auf diese Weise neurotische Störungen behoben werden können. Er verfolgt die Entwicklung des Charakters vom „Ur-Wir", das heißt die vollkommene Einbettung des Kleinkindes in die Gemeinschaft der Familie, über den „Wir-Bruch“, die aus ihm entstehende „Ichhaftigkeit“, bis zum „reifenden Wir", in dem schließlich die Ichhaftigkeit sich auflöst und der Mensch aus seiner Isoliertheit zu einer sachlichen, das heißt den Bedürfnissen der Umwelt angepaßten Haltung gelangt.

Neuerdings hat der Wiener Nervenarzt Viktor Frankl von einem Standpunkt außerhalb der Psychologie und der Biologie,

von der philosophischen Ethik her das Problem aufgerollt und ist dabei allerdings in einer etwas abstrakten Weise zu sehr wesentlichen Ergebnissen gekommen. Ausgehend von der Statuierung objektiver moralischer Werte, ist er in ähnlicher Art wie Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ zu der Ableitung eines Gottesbegriffes gelangt. Es liegt dieser Ableitung die fundamentale Einsicht zugrunde, daß alles Moralische, sofern wir es als objektiv anerkennen, letzten Endes im Religiösen wurzelt. Freilich entbehrt dieses Religiöse, wie cs Frankl in „Der unbewußte Gott" dargestellt hat, noch weitgehend der Lebendigkeit, und man merkt es dem Autor an, daß er die von Jung angebahnte Entwicklung nicht wirklich durchgemacht hat, daß er immer wieder mit abstrakten Forderungen an den Menschen herantritt, ohne diese Forderungen mit dem psychologischen Kern der Persönlichkeit in entsprechender Weise zu verbinden.

Aus dem Gesagten wird aber deutlich, daß die Wege der verschiedenen Schulen der Psychotherapie, die in ihren Anfängen schroffste Gegensätze aufwiesen, schließlich in einem Punkte enden. Dies gilt sogar für die Freudsche Psychoanalyse, soferne sie tatsächlich psychologische Zusammenhänge aufgefunden hat. Verwertbar sind Freuds Entdeckungen für uns heute nur so weit, als man ihren Sinn geradezu umkehrt und nicht die Befriedigung des Triebes als Ziel erscheint, sondern seine Überwindung.

Diese Forderung deckt sich mit dem tragenden Grundsatz aller christlichen Moral, die vielfach zu den heute herrschenden Zeitmeinungen ebenso wie zu jedem biologischen Denken in diamentralem Gegensatz steht. Haben wir diese Forderung einmal anerkannt, dann erscheint auch die verdrängte Religion nicht mehr wie bei Jung in Form von „archaischen Gottesbildern“ und „Archetypen“, sondern eben als die christliche Weltanschauung, die seit zweitausend Jahren den Menschen unseres Kulturkreises geformt hat.

Daraus ergibt sich ein außerordentlich wichtiger Schluß in bezug auf die wahre Natur der Neurose. Erscheint nämlich der neurotische Mensch der heutigen Medizin — und von ihrem Standpunkt aus mit vollem Recht — als minderwertig, so kann er uns gleichzeitig als ein geistig hochwertiges Individuum gelten, das durch Eitelkeit, Triebhaftigkeit und falsche Zeitmeinung den fal- sehen Weg gegangen ist. Die Neurose ergibt sich also als Folge der Abkehr des Menschen von dem ihm eingeschriebenen geistigen Urgrund seines Wesens. Dies erklärt uns auch die ungeheure Vermehrung der Neu-

rosen in der heutigen Zeit des prinzipiellen Unglaubens.

Ist nun aber eine an den wahren Werten orientierte Psychotherapie imstande, die unbewußte Religion wieder bewußt zu machen und den neurotischen Menschen zu der für eine sinngemäße Einordnung des einzelnen in die menschliche Gesamtheit unbedingt notwendigen Aufgabe ichhafter

Triebziele zu bewegen, so kann ihre Bedeutung für den Wiederaufbau der gestörten Gesellschaftsordnung in gar keiner Weise überschätzt werden. Kann sie doch auf solche Art nicht nur entscheidenden Einfluß auf Menschen gewinnen, die niemals einen geistlichen Seelsorger aufsuchen, sie könnte auch vielen, die wohl noch innerhalb der religiösen Gemeinschaft stehen, für die aber die Religion ihren wahren lebendigen Wert verloren hat, diesen Wert wiedergeben.

Daß die Psychotherapie unter diesem Gesichtswinkel gesehen, etwas weitaus Wichtigeres und für unser ganzes Leben Entscheidenderes ist, als eine „ärztliche Methode“ zur Behandlung bestimmter Krankheiten, liegt auf der Hand.

Leider hat heute die Öffentlichkeit von dieser Bedeutung noch wenig Ahnung. Einerseits sieht die in ihre materialistischen Prinzipien festgefahrene Medizin in der Psychotherapie noch immer eine Art von „Aberglaube“, andererseits meinen die neurotischen Patienten, man. könne , ihnen mit Tabletten und Injektionen, mit Bädern und eiaktrischen Prozeduren weit besser helfen, als mit „Reden“ und sind immer wieder sehr erstaunt, wenn man ihnen erklärt, daß ihre Beschwerden seelische Ursachen haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung