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Die Tyrannei der Banalität

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Tränen, Schreiduelle, Zornausbrüche und Handgreiflichkeiten -je skandalöser die Themen, desto besser für die Show. Fernseh-Alltag in Amerika.

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Tränen, Schreiduelle, Zornausbrüche und Handgreiflichkeiten -je skandalöser die Themen, desto besser für die Show. Fernseh-Alltag in Amerika.

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Sie ist vor fünf Jahren, trotz Schwangerschaft, aus der geplanten Heirat ausgeschert. Jetzt will sie ihn heiraten, er aber weigert sich. Sie leben zusammen. Die Schwester sagt, sie solle ihn verlassen. Sie selbst bricht in Tränen aus und sagt, sie liebt ihn. Sie kommt im Hochzeitskleid auf die Bühne.

Szenenwechsel: Er ist achtzehn, hat sie verlassen und zahlt die Alimente für sein Kind nicht. Er sagt, er braucht das Geld für seine neue Freundin. Er sei auch zu unreif gewesen, er könne sich an Frau und Kind nicht binden. Seine neue Freundin hat kein schlechtes Gewissen.

Szenenwechsel: Er ist untreu. Seine Frau erfährt auf offener Bühne, daß er sie seit Jahren mit der Nachbarin betrügt. Er sitzt zwischen den beiden Frauen und sagt, er kann sich nicht entscheiden. Er liebt beide, will aber seine Frau nicht verlassen. Die Nachbarin beklagt sich, er habe ihr die Ehe versprochen. Er leugnet.

Sie blühen und gedeihen, die neuen Fernsehshows. Nichts Persönliches ist mehr sicher. Wenn es sich dem Skandalösen nähert, umso besser. Wenn es Tränen, Zornesausbrüche, Schreiduelle und Handgreiflichkeiten gibt, ist die Sendung erst richtig gelungen. Das Intime wird zum Objekt der Öffentlichkeit. Was man vor Jahren schamhaft verschwiegen hätte, damit brüstet man sich vor dem Studiopublikum und den Fernsehern. Je zerrütteter die Verhältnisse, desto interessanter. Je konflikthaltiger die Beziehungen, desto besser für die Dramatik. Je unanständiger die Themen, desto lauter kreischen die Studiogäste.

Die neue Beichte? Ein säkularisiertes Plagiat? Nicht ganz. Die „alte" Beichte hatte disziplinierende und therapierende Wirkungen. Die Menschen wurden gezwungen, sich über ihr Verhalten Bechenschaft abzulegen: ihre Bilanz im Verhältnis zu Gott aufzumachen. Sie wurden veranlaßt, alles das auszusprechen, was sonst ihr Leben im geheimen belastet hätte, und sich von Schuld zu befreien. Und natürlich handelte es sich um ein exzellentes Herrschaftsinstrument der Kirche: Der Dorfpfarrer war der einzige, der alles über alle wußte.

Aber die alte Beichte existiert beinahe nicht mehr. Und die neue - im Scheinwerferlicht - ist eine Groteske.

Fernsehbeichten sind anders. Sie setzen keine Gewissenserforschung, keine Einsicht in Fehlverhalten vor-' aus. Das würde die Dramatik der Darbietung zerstören. Im Gegenteil: Die „feindlichen" Ausgangspositionen sollen ja gewahrt bleiben, die unterschiedlichen Auffassungen vor den Kameras aufeinanderprallen, die psychischen Konflikte im Studio ausgetragen werden. Wenn dort von Anfang an Schuldbewußtsein und Reue vorherrschten, wäre die Sendung geschmissen. Es geht nicht um Bewältigung, sondern um Inszenierung von Schuld, die eigentlich keine mehr ist.

Die Beziehung wird auf der Ebene des Gags abgehandelt, bei dem die Ernsthaften immer am kürzeren Ast sitzen: Sie möchte wissen, was an ihrer Beziehung dran ist; er fragt, ob sie am Ende im Bett mit ihm unzufrieden ist. Sie fragt, ob nicht darüber hinaus etwas sei, er sagt, er hat ja noch andere, und die beschweren sich nicht. Was soll's?

Schuld ist altmodisch. Schuldbewußtsein kommt schon deshalb selten auf, weil sich selbst die unteren Sozialschichten, die diese Sendungen mit Vorliebe bevölkern, das Psycho-Gere-de der Intellektuellen angeeignet haben. Deshalb gibt es für sie keine Pflicht, sondern nur Gefühl; keine Bindung, sondern nur Selbstentfaltung, keine Schande, sondern nur ein soziales Problem. Gemessen werden die Verhaltensweisen nicht an dem, was möglicherweise noch als „anständig" angesehen werden kann, sondern am individuellen Empfinden: Er hat ihr zwar ein Kind gemacht, aber eigentlich hatte er wenig später schon nicht mehr viel für sie übrig, und ein anständiger Mensch, nicht wahr, folgt doch seinen Gefühlen. Alles andere wäre doch „unehrlich". Es geht nicht darum, Gebote zu befolgen, sondern sich zu entfalten: Was soll man denn auch machen, wenn die Nachbarin so attraktiv ist? Da ist man doch nicht schuld daran.

Vielleicht konnte man bei der alten Beichte wirklich psychische Erleichterung unterstellen, das Sich-Befreien von der Tat oder Untat durch das Bekennen. Die Fernsehbeichte aber beruht nicht auf dem Wunsch, Schuld einzugestehen, um sie zu bewältigen und verziehen zu bekommen. Die Auftritte beruhen auf dem Umstand, daß die Menschen beinahe alles tun, um ins Fernsehen zu kommen. Selbst neben die Rivalin setzt sich die Betrogene. Selbst neben die Nachfolgerin die Verlassene. Wenn Schamloses gefordert wird, dann liefert man. Egal, man ist im Fernsehen. Dort, wo auch die Vorbilder für das eigene Verhalten zu finden sind: wo es jeden Tag um Liebe und Tod, um Verlassen und Finden, um Brutalität und Gefühl geht; wo die Menschen einander tagtäglich austauschen, zu finden glauben, verlieren, wechseln; wo alles fließt, im Rhythmus kurzatmiger Stories. Wenn das eigene Leben endlich zur Vorabendserie oder Spätabendserie wird, ist es erst ein wirkliches Leben. Die Banalität heruntergekommener Individuen, die mit ihrem Leben nicht zurecht kommen, wird interessant. Wer im Alltag niemals einen Hauch von Bedeutsamkeit verspürt, der wird zum Star. Eine Kamera richtet sich auf ihn. Der Moderator sagt: Erzählen Sie. Das schafft Bedeutung, die einzige Bedeutung, die zählt. Wenn Banalität, Schwäche und Drangsal fernsehwürdig werden, sind es nicht mehr Banalität, Schwäche und Drangsal. Längst ist das Fernsehen die richtige Welt, und man nimmt auch das mulmige Gefühl in Kauf, um aus dem künstlichen, faden Alltag in die Fernseh Wirklichkeit entfliehen zu können. So sitzen sie dann im gleißenden Licht, nervös und unbehaglich, oft auch pampig und ungeschickt, mit dem Selbstbewußtsein der Dummen.

Das Publikum ist die Dorf gemein-schaft, die Gruppe der Umstehenden, die sagen, was richtig und was falsch ist; die manchmal sogar auf Knopfdruck abstimmen dürfen. Sie entsprechen den Figuren auf der Bühne, in Gehaben, Kleidung, Blickweise. Sie kennen sich aus in den Fragen, die hier zur Sprache kommen, denn es sind auch ihre Fragen, und sie psychologisieren drauflos. Mutter und-Tochter-Pro-bleme etwa: Eine Mutter, in den Fünfzigern und noch älter aussehend, kommt im silbernen Minikleidchen mit großem Dekollete auf die Bühne, und ihre Tochter beklagt sich, daß sie sich lächerlich macht. Das Publikum ist der festen Überzeugung, man solle sich kleiden, wie es einem gefällt. Die andere Tochter ist bekümmert, daß ihr Freund ihr dauernd sagt, ihre Mutter sei so „hot". Das Publikum johlt. Die dritte hat keine Probleme: Sie hat ihre Mutter, die ebenso schön ist wie die Tochter, überredet, Aufnahmen für den Playboy zu machen. Das Publikum ist begeistert. Der Serienkitsch ist längst zum Leben geworden, und die Zuschauer halten die kollektive Pathologie für normal. Dazu tragen auch der Psychologe oder die Psychologin bei, die oft beigezogen werden. Sie liefern eine kurze Spontanerklärung und verleihen dem Offensichtlichen die Weihe ihrer Hüftschußexpertise. Der Moderator oder die Moderatorin sind keine Fernsehpfarrer. Sie halten die Sache am Laufen: Sie heizen an, kühlen ab, stellen die peinlichen Fragen. Ihr Prinzip kann es nicht sein, das Problem zu bewältigen, sondern die Zuschauer bei der Stange zu halten.

Am Ende haben sie allerdings meist doch das Gefühl, einer „Lösung" näherkommen zu müssen: Noch muß die Skrupellosigkeit mit Resten moralisehen Bewußtseins rechnen, die sich in den Köpfen der Seher angeschwemmt haben, und auf den guten Ausgang von Geschichten sind die Fernsehzuschauer getrimmt. Oft gelingt es, unter dem Druck der öffentlichen Sendung, sogar, mit einer Versöhnung oder einem Heiratsversprechen zu enden, besonders bei „schwachen" Kandidaten. Das Fernsehteam wird dann mithelfen, die Heirat für heute nachmittag zu arrangieren, und das Publikum ist gerührt. Sonst endet die Sache mit der Feststellung, man werde sich „bemühen", wie auch immer. Das Fernsehen und die Verbesserung der Welt. Der gruselige Kitsch des happy-end.

Der Autor ist

Professor für Kultursoziologie an der Universität Graz (derzeit tätig an der Harvard University, Cambridge, USA).

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