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„Eine kleine Gruppe Intellektueller..

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Am 10. Dezember 1956 behandelte der österreichische Nationalrat im Rahmen der Budgetdebatte auch wieder die Schulfrage. Zum Antrag der OeVP, diese Schulen finanziell zu unterstützen, erklärte der Sprecher der FPOe:

„... Seine Partei stehe auf dem Boden der öffentlichen Gemeinschaftsschule und sehe keinen zwingenden Grund, an der bisherigen Regelung der Finanzierung der konfessionellen Schulen eine Aenderung eintreten zu lassen.“ Der .Sprecher der zweiten Regierungspartei meinte: „Wir haben in .Oesterreich . die Ge-. meinschaftsschule und wer die Meinung der Eltern kennt, wird wissen, daß — vielleicht eine kleine Gruppe katholischer Intellektueller ausgenommen — niemand eine Aenderung wünscht. Man redet es den Leuten nur ein.“ („Wiener Zeitung“, 11. Dezember 1956.)

Bei der ganzen Debatte kam ein Moment überhaupt nicht zur Sprache, nämlich die sozialen Verhältnisse der Schüler dieser Anstalten. Beide zitierte Parteien scheinen anzunehmen, die Besucher dieser Anstalten kämen aus gut situierten „bürgerlichen“, ja kapitalistischen Familien. Daß dies eine arge Täuschung ist, soll ein Beispiel zeigen. Der Schreiber dieser Zeilen kennt zufällig den heurigen Maturajahrgang einer katholischen Privatschule, nämlich des Melker Stiftsgymnasiums, sehr genau. Der Jahrgang umfaßt 29 Studenten. Beachten wir, aus welchen Schichten der Bevölkerung diese Schüler kommen!

Schüler

1 Vater: Schuhmacher, 6 Kinder, Vater allein im Geschäft.

2 Vater vermißt (Maler und Anstreicher), Mutter Postangestellte, keine Geschwister.

3 Vater: Ausnehmer in einer kleinen Waldviertler Landwirtschaft, 3 Kinder.

4 Vater vermißt (Fleischereiarbeiter), 4 Kinder, die Mutter lebt von der Rente.

5 Vater: Arzt, 6 Kinder.

6 Vąt r:„Ąępthekęrį 4 Kinder. ,

7 W ei, er FJeifchhauęrei, 2 Kinder.

8 Vater gestorben (Mittelschullehrer), 3 Kinder, Mutter lebt von der Pension.

9 Vater: Dorfschmied, arbeitet allein im Geschäft, 5 Kinder, der Schulweg beträgt hin und zurück 16 Kilometer.

10 Vater vermißt (Lehrer), Mutter lebt von der Pension, 1 Kind.

11 Va er: Pensionist der Bundesbahnen, 3 Kinder.

12 Vater vermißt (Ingenieur), Mutter Fachlehrerin,

2 Kinder.

13 Vater: Zahnarzt, 3 Kinder.

14 Vater: Beschäftigt bei Semperit Wimpassing,

3 Kinder.

15 Vater: Bundesangestellter, 2 Kinder.

16 Vater: Holzarbeiter, 4 Kinder.

17 Vater: Kleinbauer, 2 Kinder.

18 Vater: Kleinbauer, 3 Kinder.

19 Vater gestorben (Schmied), Mutter gestorben; der Bruder führt die Schmiede (ohne Gehilfen), 3 Kinder.

20 Vater: Molkereiarbeiter, 4 Kinder.

21 Vater: Kaufmann (ohne Gehilfen), 2 Kinder.

22 Vater: Waldviertler Kleinbauer, 7 Kinder.

23 Vater vermißt (Gendarmeriebeamter), 4 Kinder.

24 Vater: Lagerhausarbeiter, 7 Kinder.

25 Vater gefallen (Kleinbauer), 4 Kinder.

26 Vater: Arzt, 2 Kinder

27 Vater: Bundesbahnpensionist, 3 Kinder.

28 Vater: Ingenieur, 2 Kinder.

29 Vater: Landwirtschaftlicher Arbeiter, 5 Kinder.

Ins Auge fällt hier vor allem die hohe Zahl derWaisenkinder: 8 = zirka 28%. Die Schüler verteilen sich auf folgende Berufsgruppen:

Das Verhältnis Akademiker- zu Nichtakademikerkinder beträgt 1:3.

Und nun zu den Kindern „gut situierter" katholischer Intellektueller Der Vater des Schülers 5 ist Zahnarzt in Loosdorf bei Melk, die Familie kinderreich, der Student legt täglich (mit seinem Bruder) den zehn Kilometer langen Schulweg mit der Bahn oder mit dem Rad zurück, um nicht durch ein Internat das familiäre Budget zu belasten.

Der Vater des Schülers 6 hat die Melker Apotheke inne und der Sohn besucht die Anstalt, weil sie für ihn günstig liegt. Beide Fälle scheiden aber für unsere Betrachtung aus, da sie ja nicht eigens von den Eltern in eine bestimmte Schule geschickt wurden!

Der Vater des Schülers 8 war Mittelschullehrer, in jungen Jahren gestorben, die Mutter sorgt mit der gewiß knappen Pension für die drei Kinder.

Schüler 12: Vater vermißt, Agraringenieur. Da die Rente zum Studium der beiden Kinder nicht ausreicht, übt die Mutter ihren früheren Beruf wieder aus. Niemand wird annehmen, daß beide Familien „gut bürgerlich“ oder „gut sozialistisch“ leben.

Es verbleiben somit nur drei Schüler (13, 26, 28) = zirka 10,5%. Wir stimmen hier mit der zweiten Regierungspartei völlig überein — für diese Gruppe ist die Lösung der Schulfrage nicht dringend. Wer jemals mit Kindern „katholischer“ wie auch sozialistischer Akademiker zu tun hatte, weiß, daß beide Gruppen für die Ausbildung ihrer Kinder alle Opfer bringen und heute auch bringen können. Sie mögen daher bei kommenden Debatten vorderhand ruhig außer acht gelassen werden!

Wohl aber sollte die zweite Regierungspartei ihr Augenmerk stärker auf die Schüler nichtakademischer Väter richten — vor allem auf deren Berufe, Einkommen und Kinderzahl! Sie machen in unserem Falle die dreifache Anzahl aus, und ein auch nur flüchtiger Blick auf die Tabelle erweist schon“ ihre Notlage.

Die katholischen Anstalten wurden 1938 geschlossen. In der folgenden Zeit gingen große Teile ihres Inventars verloren. Der Rest wurde dann noch durch die Kriegswirren völlig devastiert. Nur mit allergrößter Anstrengung konnten diese Schulen nach 1945 wieder flottgemacht werden, zumal ja auch der geistliche Personalstand ziemlich gelichtet ist. Und diese Schulen müssen nun von den Schülern mangels einer staatlichen Unterstützung einen Schulerhaltungsbeitrag (zirka 100 S monatlich) verlangen, um überhaupt existieren zu können oder um das Defizit auf ein erträgliches Maß herabzudrücken. Die Schüler wissen, daß ihre geistlichen und weltlichen Lehrer — dies sei besonders betont — eine weit über die vom Staat geforderte Stundenanzahl unterrichten, um diesen Beitrag in mäßigen Grenzen zu halten. Während aber an den staatlichen Anstalten jeder Schüler bei halbwegs gutem Fortgang und bei gutem Betragen ohne weiters Schulgeldbefreiung erhält, kann dies bei den geistlichen Schulen nicht der Fall sęjn. Wer also entweder aus religiöser Einstellung jrr im Zeitalter der, Menschenrechte eigentlich kein strafbarer Tatbestand — oder mangels einer anderen Studienmöglichkeit (vergi. Schüler 9) in einer geistlichen Anstalt studiert oder studieren muß (!), muß den Betrag für die schulische Ausbildung selbst tragen, während der-Staat für jeden anderen Studierenden diese Auslage selbstverständlich auf sich nimmt.

Stellen wir uns vor, der Lehrer für Geschichte an dieser Anstalt würde zur Illustration der Tätigkeit des Hohen Hauses die bisherigen Behandlungen der Schulfrage vor dieser Klasse ausführlich darlegen. Würde die Meinung der Schüler über die Volksvertretung eine besonders hohe sein, wenn sie etwa aus einem Zwischenruf erfahren, daß „niemand an dem Besuch dieser Schulen gehindert wird („Wiener Zeitung“, 11. Dezember 1956). Oder wenn ausgerechnet diese sozial schlechtgestellten Schüler hören, daß sie oder ihre Eltern arroganten und bequemen Genußmenschen gleichgestellt werden, die nicht zu Fuß gehen oder mit der Elektrischen fahren wollen wie das übrige Volk, sondern unbedingt ein Taxi beanspruchen? Nebenbei — keiner der erwähnten Schüler besitzt ein motorisiertes Fahrzeug!

Oftmals wird der Jugend vorgesagt, die Monarchie habe für die Jugend nichts getan. Erst wenn der junge Mann waffenfähig wurde, erwachte das Interesse des Vaters Staat an seinen Söhnen. Die Zweite Republik aber ... handelt an diesen Studenten genau so. Der Staat weiß, daß die gewährte Kinderbeihilfe wieder als Schulgeld verloren geht, und tut trotzdem nichts dagegen! Großzügig wird -der Grundsatz der gleichen Rechte außer acht gelassen.

Gewiß kann man über manche Punkte des Schulgesetzes noch verhandeln, doch die finanzielle Benachteiligung gerade der sozial schlecht gestellten Schüler muß ein baldiges Ende finden!

Die Weihnachtsbotschaft des Gewerkschaftsbundes spricht von der „richtigen Stellung der Weichen". Wird man auch hier den Mut aufbringen und die Weichen richtig einstellen, auch wenn der Zug dann einige alte, jedoch häufig gebrauchte und einseitig beliebte Schlagerplatten vernichten sollte? Gott gebe es!

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