Die aufgeschobene Unabhängigkeit

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Seit einem Vierteljahrhundert wartet das Volk der Westsahara auf seine Befreiung vom Aggressor Marokko. Den Frieden der Zivilgesellschaft erlernen dessen Kinder in Österreich.

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Seit einem Vierteljahrhundert wartet das Volk der Westsahara auf seine Befreiung vom Aggressor Marokko. Den Frieden der Zivilgesellschaft erlernen dessen Kinder in Österreich.

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Das Mädchen Keltum wirkte erbärmlich unterernährt. Sie mochte kaum fünf Jahre alt sein - und hatte doch bereits elf lange Jahre im Flüchtlingslager Tindouf verbracht. Ihr lebenslanges Leiden an Zöliakie, einer nicht ansteckenden Getreideunverträglichkeit, hatte ihrem zierlichen Körper jegliche Entfaltung versagt. Unter europäischen Verhältnissen wäre die Krankheit durch eine Diät problemlos heilbar. Diät halten die Saharauis zwar auch, jedoch keine heilsame: Die Lebensmittelversorgung durch die UNO ist extrem einseitig und unausgewogen. Wochenlang gibt es nur Nudeln, dann wieder nur Reis oder Mehl, an Glückstagen kommt auch Öl und Zucker. Der typische Speiseplan für jene 167.000 Flüchtlinge, die vor 24 Jahren von der mordenden Soldateska des marokkanischen Königs Hassan II. aus ihrer Heimat Westsahara vertrieben wurden.

Die Begegnung mit dem verkümmerten Kind in der algerischen Wüste hatte in Hannah Fischer eine Lawine an Engagement losgelöst. Die Wiener Kinderpsychologin überredete Keltums Eltern, das Mädchen zur Behandlung nach Österreich fliegen zu lassen, wo sie medizinische Betreuung an der Kinderklinik Wien sowie herzliche Aufnahme bei einer Betreuungsfamilie im niederösterreichischen Kirchschlag fand. Weil die Betreuungsmutter schwanger wurde, übersiedelte Keltum vor kurzem nach Friedberg in der Steiermark - wo sie eine neue Leidenschaft entdeckte: Nutella! Eine Therapie, die - neben der strengen Diät - Wunder wirkt. Das zerbrechliche Geschöpf entfaltet sich zur saharauischen Prinzessin.

Keltum ist nur eines von zahlreichen Kindern aus dem Wüstenlager, um deren medizinische Versorgung sich Fischer kümmerte. Vor zehn Jahren hatte sie das Kindergartenprojekt "Westsahara" mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Vertriebenen des vergessenen Wüstenkrieges vor allem in deren Bemühen um Bildung zu unterstützen. 60 saharauische Frauen wurden auf diesem Wege in Österreich zu Kindergärtnerinnen ausgebildet. Eine Erweiterung dieses vom Unterrichtsministerium finanzierten Projekts lief im September 1998 an: Am Berufspädagogischen Institut Mödling werden nun einige junge Frauen selbst als Ausbildnerinnen instruiert, um so die bildungspolitische Auslandsabhängigkeit der Flüchtlingsgemeinde zu verringern. Denn auch wenn die Saharauis in ihren Lagern am Rande der Welt ein tristes Dasein ohne Zukunft für dieses Exil fristen, so arbeiten doch alle fieberhaft an ihrer "Staatsreife" für jenen Augenblick, auf den sie so lange schon warten: ihre Rückkehr ins gelobte Land Westsahara, um über Unabhängigkeit von oder Verbleib bei Marokko abzustimmen.

Spanische Kolonie Kaum fünf Prozent Lesekundige und gerade 30 Studenten waren das Bildungsresultat einer fast hundertjährigen spanischen Kolonialpolitik; im Kampf gegen die Herrschaft in Madrid sowie marokkanische Besitzansprüche bildete sich 1973 der Frente Polisario, der militärische Arm der Saharauis. Als Diktator Franco 1975 stirbt, gibt Spanien die Kolonie unerwartet frei. Doch über Nacht bricht die Flut von 350.000 Marokkanern herein. König Hassan II. hatte zum "grünen Marsch" auf die Westsahara aufgerufen, um das fisch- und phosphatreiche Land "heim ins Reich" zu holen - und um seine Armee nach zwei Putschversuchen außer Landes beschäftigt zu wissen.

Seiner Berufung auf uralte historische Ansprüche hatte zwar der Internationale Gerichtshof in Den Haag widersprochen, doch das Interesse der "zivilisierten" Staaten für die paar "Kamelnomaden" hielt sich - im Gegensatz zum Fall des ölreichen Kuwait 15 Jahre später - in engsten Grenzen.

Aus gutem Grund, denn der Monarch ist des Westens treuester Verbündeter in der Region, für die USA galt er bis zur Bush-Ära gar als die antikommunistische Afrika-Bastion schlechthin. Ronald Reagans Druck auf Schweden und Österreich verhinderte sogar die vorzeitige Anerkennung des von der Polisario 1976 proklamierten Staates "Demokratische Arabische Republik Sahara" (DARS). Für so viel Loyalität nahm der König 1991 sogar die wütenden Proteste Tausender Marokkaner in Kauf, um den westlichen Alliierten ausgerechnet gegen seinen arabischen Bruder und Epigonen Saddam Hussein beizustehen.

Im märchenhaften Luxushotel La Mamounia in Marrakech laben sich französische Spitzenpolitiker aller Parteien auf des Königs Einladung. Nicht umsonst galt 1995 der erste Besuch des frischgebackenen Präsidenten Jacques Chirac im frankophonen Afrika seinem langjährigen Freund, dem König von Marokko. Der unter Waffenproduzenten geschätzte Kunde hat jährlich 350 Millionen Dollar zu vergeben. Diese Kosten der Westsahara-Okkupation kann sich der lächelnde Souverän dank 250 Millionen Dollar Entwicklungshilfe von der EU locker leisten. Verständlich, daß Frankreich während des österreichischen EU-Vorsitzes die Bemühungen der Polisario zu verhindern wußte, das Westsahara-Problem auf die Tagesordnung zu bringen.

Genauso verständlich, daß Marokko die bereits für 1992 vereinbarte Durchführung eines fairen Referendums bis heute aufzuschieben vermochte - auch der zuletzt festgelegte Abstimmungstermin im Dezember 1998 wurde nicht eingehalten.

Einmal mehr wurde die bislang 1,7 Milliarden Dollar teure MINURSO, die UN-Mission zur Durchführung der Volksabstimmung unter der militärischen Führung des österreichischen Majors Bernd Lubenik, genarrt. Streitpunkt ist die Liste der Wahlberechtigten. Nach der einwandfreien Identifikation von 147.000 Saharauis auf Basis des spanischen Wahlzensus von 1974 besteht der Besatzer partout auf der Anerkennung 65.000 weiterer angeblicher saharauischer Stammesangehöriger ...

Derweil werden vom österreichischen Außenministerium jährlich Seminare im Flüchtlingslager abgehalten, um die Fähigkeiten der in Österreich ausgebildeten Kindergärtnerinnen vor Ort zu vertiefen. "Wir versuchen, den Kindergärtnerinnen Techniken wie das Geschichtenerzählen beizubringen - eine alte arabische Tradition", erzählen die Pädagoginnen Waltraud Posch und Petra Ostermann. "Unser Problem: Wir mußten jegliches Arbeitsmaterial aus Österreich mitbringen, denn außer dem Lebensnotwendigsten gibt es im Camp absolut nichts", schildern die beiden Damen vom Hartberger Verein "Westsahara" ihre Erfahrungen. Das Echo dieses entbehrungsreichen Einsatzes war enorm, sowohl bei den Rudeln neugieriger Kinder als auch bei einem algerischen TV-Team, das die Arbeit filmte.

Steiermark-Urlaub Verhungern müssen die Saharauis nicht, doch ist die Monotonie jener verschlissenen Hoffnung auf Gerechtigkeit ein zu karger Boden zur Entfaltung zukünftiger demokratischer Bürger - trotz allen Bildungsenthusiasmus. Darum sollen möglichst viele Kinder einmal in ihrem Leben nach Europa geschickt werden, um eine Gesellschaft in Frieden und Freiheit kennenzulernen. 10.000 Schützlinge wurden bereits von Spanien, Italien und Frankreich eingeladen. Dieses Ziel will auch der Verein "Westsahara" unterstützen: Zehn Buben und Mädchen können sich im Sommer drei Wochen lang in Graz und Hartberg erholen. Betreuungsfamilien haben sich überraschend schnell gefunden. Die Aufenthaltskosten von rund 80.000 Schilling decken das Magistrat Graz, die BH Hartberg und SP-Gesundheitslandesrat Günter Dörflinger. Nur für die teuren Flüge werden noch Sponsoren gesucht.

"Die Kinder sollen sich körperlich und seelisch in unserer grünen Steiermark regenerieren. Diese Erfahrung prägt sie ein Leben lang, was wir als Beitrag zur präventiven Friedenssicherung verstehen", ist Posch von ihrem Projekt überzeugt.

Welcher Friede? "Ich persönlich sehe kaum Chancen, daß Marokko jemals unsere Unabhängigkeit akzeptieren wird. Zu viel hat Hassan II. schon investiert! Zu wenig bedeutet der Völkergemeinschaft unser Schicksal in der Wüste", zweifelt Salek Seghir Radhi, der Polisario-Repräsentant in Österreich, an einem fairen Ende des verschleppten Konflikts. Und wen wird der erneute Ausbruch eines verdrängten Wüstenkriegs kümmern? Abgesehen von den Waffenhändlern.

Der Autor ist Publizist und leitender Redakteur der Internet-Zeitschrift "zum Thema:" Verein "Westsahara": Petra Ostermann, Neubaugasse 21/8, 8230 Hartberg, Tel. 03332-761434. Spenden werden auf das Konto Nr. 000-124792, Sparkasse Hartberg erbeten.

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