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Mit dem General in die Provinz

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„Das war ein Herbsttag, wie ich keinen sah“: ein großer Tag für Marvejols, keine Frage. Es muß erlaubt sein, Gottfried Keller zu zitieren, um die herrliche Feststimmung dieses Septembertages zu beschwören.

Das Städtchen hatte sich herausgeputzt, in Festschmuck geworfen, die historischen Bauten ins rechte Licht gerückt. Es galt, den Präsidenten zu empfangen. Dominic stak im besten Anzug, im dunkelblauen, den Jackenaufschlag mit allen militärischen Auszeichnungen besteckt. Wer sich von den 3700 Einwohnern auf zwei Beinen aufrecht halten oder auf vier Rädern fortbewegen konnte, stand am Straßenbord. Das hatte man noch nicht erlebt: ein Präsident in den Mauern von Marvejols. Mindestens seit der letzten Durchfahrt der Tour de France gab es nichts Vergleichbares. Ganz klar, daß an diesem Tage nichts gearbeitet wurde und die Schulen geschlossen blieben. Barmherzige Schwestern nahmen die Kleinen unter ihre Hauben, während die Geistlichen ihr Brevier mit den papierenen Trikolorefähnchen vertauschten.

Der General kommt

Und da kommt er schon, im offenen Wagen stehend, stürmisch bejubelt. Wer uniformiert ist, nimmt Haltung an: Gendarmen, C. S. R., Armee, Briefträger. Durch den Haupteingang betritt de Gaulle den schmucken Garten des Rathauses, unter dessen schattigen Bäumen schon viele Neugierige versammelt sind. Die Photographen nehmen sich alle Pressefreiheiten heraus. Die Gemeindenotabein werden vorgestellt, und man gruppiert sich vor den Mikrophonen.

Der Bürgermeister begrüßte den Präsidenten herzlich, dessen Besuch ihn bewege, wenn er politisch auch das Heu nicht immer auf derselben Bühne habe. Er durchstreift anschließend die Geschichte der Stadt, die damals die Engländer eigenhändig verjagt habe. Aber schließlich kommt er auf das Siechtum der regionalen Wirtschaft zu sprechen, die von einer andauernden Abwanderung bedroht ist, einem Verlust von Arbeitskräften, der die Bevölkerungsdichte auf fünfzehn Einwohner pro Quadratkilometer hat absinken lassen. Inzwischen haben sich Männlein, Weiblein, Kind und Kegel im Garten des Rathauses zusammengefunden, wo eine wahre Kirmesatmosphäre herrscht. Man wun-

dert sich, keine Schanktische und Schießbuden zu finden.

Ouvertüre

Nun ergreift de Gaulle das Wort, dankt für den „warmen Empfang in Ihrer schönen Stadt“ und beschäftigt sich sogleich mit den regionalen Wirtschaftsproblemen.

„Das erstrebenswerte Ziel ist hier, diesem Land sein Naturell und seine Seele, das heißt seine Bewohner, zu bewahren. Man muß gewis- sermaßen erreichen, daß die Lozere durch sich selbst, mit sich selbst und für sich selbst, das heißt, auch für Frankreich lebt.“

Die Leute hören zwar so etwas gerne, aber im Grunde hätte es ihnen genügt, den General bloß in seiner Leibhaftigkeit zu sehen. Sie wissen eigentlich nichts Rechtes mit dem Glück anzufangen, ihn jetzt auch noch sprechen zu hören. Deshalb ist es auch ein Unfug, die Reaktion der Bevölkerung politisch zu deuten.

Aber de Gaulle fährt fort:

„Wir müssen das Werk der De- kolonisation in Algerien vollenden, damit Algerien algerisch wird und damit dieses algerische Algerien mit Frankreich zusammenarbeitet. Wir sind überzeugt, daß nach getaner Arbeit eine neue Ära beginnen wird, die uns die Übel schnell vergessen lassen wird, die wir durchlitten haben und noch durchleben.“

Was schert’s den Säugling, der fröhlich vor sich hinkräht, wenn Mutti killekille macht und ein übers andere Mal ausruft: „Wem gehört denn dieses Beinchen? Nein, wem gehört denn dieses Beinchen?" Es wird sich doch wohl feststellen lassen, wem dieses Beinchen gehört, denkt manch einer und wendet sich wieder de Gaulle zu, der jetzt unbeirrt Fragen der Außenpolitik anpackt.

„Es gibt Probleme, die geregelt werden müssen: dasjenige Deutschlands, dasjenige der Abrüstung — denn man kann nicht unendlich mit der Drohung des atomaren Todes über unseren Köpfen leben —, das Problem der unterentwickelten Länder. Das bedeutet, daß man sprechen muß, daß man — wie es heißt — verhandeln muß. Aber man kann weder sprechen noch verhandeln, wenn man droht. Damit dies möglich wird, ist es notwendig, daß die Drohungen aufhören.“

Aber das ist zu hohe Mathematik für die Töchter des Landes, die sich heute besonders hübsch gemacht haben und jetzt kichernd nach den jungen Burschen schielen.

Appell

Melancholisch und mit epischer Betrübnis kommt der Präsident nun auf das Hauptthema dieser Reise zu sprechen:

„Vielleicht werden Sie sich daran erinnern, was Ihnen im Namen von ganz Frankreich der General de Gaulle gesagt hat. Wenn wir an-

fangen, auseinanderzulaufen und gegenseitig anzugreifen, eh bien, dann werden wir rasch das Opfer des Unglücks werden, innen und außen. Und ich sage Ihnen, ich bin hier, um es Ihnen zu sagen: die Einheit, hier liegt die Wahrheit und hier liegt die Aufgabe.“

Es folgt der unermüdlich wiederholte Appell an die „nationale Kohäsion“, die sogleich durch das Absingen der Marseillaise erhärtet wird. Der General verrät eine ungewöhnlich angenehme und sichere Baritonstimme, die einen Maurice Chevalier erblassen ließe und die übrigen Chorsänger sichtlich beeindruckt.

Präsidialdemokratie

Aber jetzt schlägt de Gaulle die Warnungen seiner Sicherheitsbeamten in den Wind und eilt geradewegs auf die Menge zu, die ihm ihre Hände entgegenstreckt. Einige sportliche, aber diskrete Herren in Zivil aus de Gaulles Begleitung bringen dagegen ihre Hände mehr in die Nähe der Taschen. Der Präsident steigt mitten hinein ins Gewühl, und wo seine überragende Gestalt auftaucht, ist es am dichtesten. Die diskreten Herren vermögen nicht mehr ganz zu folgen, weil sie etwas untersetzter gebaut sind. Nach einigen Minuten windet sich der Präsident wieder zurück in die sichere Sperrzone, um den Garten durch den Haupteingang zu verlassen.

Im Moment, da er an mir vorübergeht, werde ich von der Versuchung gepackt, mich vor seine Füße zu werfen, seine Knie zu umklammern und ihn anzuflehen, mir doch endlich in meiner Pariser Wohnung das Telephon installieren zu lassen, weil ein Journalist „ohne“ nicht existieren kann. Ein Präsident vermöchte vielleicht, den Schlaf französischer Beamter zu stören. Aber ich versage mir diesen ausgetretenen Pfad zum Ruhm und verfolge dafür aus der Ferne, wie es einem Kriegsinvaliden gelingt, die Aufmerksamkeit des Generals auf seinen defekten Fahrstuhl zu lenken, den er nicht aus eigenen Mitteln ersetzen kann. Der General verspricht Abhilfe und läßt den Wunsch durch seinen persönlichen Adjutanten notieren.

Und so beginnt man langsam zu verstehen, was eine Präsidialdemokratie ist. Wer ein Anliegen hat, muß damit auf die Straße gehen, wenn er gehört werden will; wahrscheinlich auch bei Telephonanschlüssen.

Ob der General auch einmal bei ihrem Korrespondenten vorbeikommt?

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