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Panthersprung nach Quebec

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Katastrophe am Nationalfeiertag: „Quebecs Abfall von Kanada“, lautete die sensationellste Überschrift einer Titelseite in der Zeitungsgeschichte des zweitgrößten Landes der Erde. Vor vier Jahren, als dieser Bericht in Torontos „Tete-gram“ (Kanadas größter konservativer Zeitung) erschien, war es natürlich keine Tatsachenmeldung, sondern ein „stunt“, eine journalistische Spielerei mit ernstem Unterton. Das Datum war denn auch damals auf den Juli 1967 vorgerückt, dem Zeitpunkt, als die Nation Kanada den 100. Geburtstag ihres Bestandes feierte...

Nun wurden Erinnerungen an diese Titelseite wach, als Präsident Charles de Gaulle, der auf Einladung der kanadischen Regierung, zum „Frankreichtag“ der Montrealer Weltausstellung gekommen war, vor dem Rathaus von Kanadas größter Stadt — der zweitgrößten französischsprachigen Stadt der Erde — ausgerufen hatte: „Vive le Quebec libre!“ — Lang lebe das freie Quebec!

Tosende Ovationen der meist jugendlichen franko-kanadischen Separatisten dankten dem hohen Gast dafür, daß er ihren Kampfruf aufgegriffen hatte. Flink erklärte der Separattotenführer Gilles Gregoire, ein Abgeordneter des Bundesparlamentes, er sei davon überzeugt, daß Quebec (Kanadas größte Provinz) bereits im Jahre 1970 eine unabhängige Republik sein werde. Doch der kanadische Historiker Eugen Forsey konterte sarkastisch: General de Gaulle scheint zu glauben, Quebec sei Frankreichs Sudetenland.

Die Bombe explodiert

Ehe Präsident de Gaulle noch diese Worte gesprochen hatte, bemerkte er: „Als ich herkam, fühlte ich eine Atmosphäre, wie jene vor der Befreiung (von Paris)...“ Der hohe Gast erwähnte auch in einer Rede an die Franko-Kanadier, die mehr als 80 Prozent der 5,600.000 Einwohner Quebecs stellen: „Frankreich liebt euch! Wir haben gemeinsame Taten zu vollbringen, die vielleicht schwierig und gefahrvoll sein werden ...“

Auf die Anglo-Kanadier, von denen man in der Belle Province de Quebec sagte, sie seien trunken von den 100-Jafhr-Feiern, lösten die Worte von Präsident de Gaulle die Wirkung einer explodierenden Bombe aus. Dazu erklärte noch Quebecs Premier Daniel Johnson, der erst vor 13 Monaten mit einer sehr geringen Mehrheit an die Macht gekommen war: „Für uns, Herr Präsident, sind Sie das lebende Symbol der Widerstandsbewegung... Die Personifizierung einer Nation, die das ausländische Joch abschüttelte ...!“

Ministerpräsident Lester Bowles Pearson, der Friedensnobelpreisträger, entgegnete de Gaulle: „Kanadier sind frei. Jede Provinz ist frei. Kanadier brauchen keine Befreiung — doch tausende Kanadier gaben in zwei Weltkriegen ihr Leben, um Frankreich zu befreien.“

„Satellit der USA“

Einflußreiche kanadische Zeitungen forderten Präsident de Gaulle auf, schnellstens Kanada zu verlassen, Mitglieder des Kabinetts boykottierten alle Veranstaltungen, an denen Frankreichs Präsident teilnahm. Kurz entschlossen sagte Präsident de Gaulle seinen Besuch in Ottawa ab und flog von Montreal aus nach Paris zurück.

De Gaulle betrachtet Kanada als einen Satelliten der USA und ist über den steigenden Einfluß Washingtons (auch in Quebec) beunruhigt. Die amerikanischen Investitionen der Vereinigten Staaten in Quebec werden bereits auf 10 Milliarden Dollar geschätzt. Schon zielen manche Vermutungen darauf hin, daß die von Präsident de Gaulle erzeugte Unruhe den weiteren Zustrom amerikanischen Kapitals drosseln könnte... Ein amerikanischer Beobachter verglich das Verhalten des hohen Gastes in Kanada mit dem eines sadistischen Zahnarztes, der mit Absicht bei dem empfindlichsten Nerv der Patienten bohre!

Obwohl die Separatisten Quebecs bei den Landtagswahlen des Vorjahres kaum 9 Prozent der Stimmen bekamen, ist ihr Einfluß nicht gering. Premier Daniel Johnson (Spitzname: „Schlüpfriger Dan“) scheint sich die Parole: „Separatismus, wenn notwendig — doch nicht notwendigermaßen Separatismus“ zu eigen gemacht zu haben.

„Kein Schmelztiegel...“

Noch ist es unmöglich, die Auswirkungen des Verhaltens von Präsident de Gaulle auf die kanadische Politik abzuschätzen. Zweifellos werden in der Belle Province de Quebec die Flammen des Separatismus höher aufzüngeln als je zuvor. Seit Jahren kämpft diese Bewegung mit allen Mitteln für eine unabhängige Republik. Zu Jahresbeginn „begrüßten“ sie 1967 mit einer Bombenexplosion nahe der Notre-Dame-Kirche Montreals, und mit Stolz wiesen sie darauf hin, daß sie es waren, die das 8000-Tonnen-Schiff „Cabot“ im Hafen von Montreal versenkt hatten.

Arnold Edinborough, Chefredakteur von „Satarday Night“ (Toronto), behauptet, Kanada sei kein SChmelz-tiegel, sondern ein gemischter Salat. Präsident de Gaulle hat nun für die Beimischung von reichlich viel Gewürz gesorgt...

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