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Der Wurm im Apfel

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„Wenn wir nicht gehandelt hätten, wäre der Abfall Quebecs zur Tatsache geworden— einen Monat oder ein Jahr von heute!“ behauptet Minister Jean Marchand, des Regierungschefs Pierre Trudeau engster Mitarbeiter. Der Proklamierung des War Measure Act folgte die Ermordung des Quebecer Arbeitsministers Pierre Laporte. Zum erstenmal in der Geschichte Kanadas war das Kriegsgesetz in Friedenszeiten proklamiert worden.

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„Wenn wir nicht gehandelt hätten, wäre der Abfall Quebecs zur Tatsache geworden— einen Monat oder ein Jahr von heute!“ behauptet Minister Jean Marchand, des Regierungschefs Pierre Trudeau engster Mitarbeiter. Der Proklamierung des War Measure Act folgte die Ermordung des Quebecer Arbeitsministers Pierre Laporte. Zum erstenmal in der Geschichte Kanadas war das Kriegsgesetz in Friedenszeiten proklamiert worden.

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Anderseits war die Ermordung von Pierre Laporte — von den Terroristen der Front de Liberation Que-becois (FLQ) als „Hinrichtung“ bezeichnet — der erste politische Mord in Kanada seit mehr als hundert Jahren.

Nur zum Teil sind die Unruhen Quebecs „historischer“ Natur. Die Quebecer fühlen immer wieder, daß die anglokanadische Majorität sie diskriminiert. Die höh« Arbeitslosigkeit — 41 Prozent der stellenlosen Kanadier leben in La Belle Province und fast alle sind Frankokanadier — ist eines der brennendsten Probleme der Nation. Als die Liberalen bei den Provinzwahlen im April siegten, hatten sie die Schaffung von 100.000 neuen Arbeitsplätzen versprochen. Bei diesen Wahlen bekam der separatistische Parti Quebecois mehr als 23 Prozent der

Stimmen. Auch die Dominierung der Wirtschaft Quebecs durch anglokanadische und amerikanische Interessen hat die Separatistenbewegung stimuliert.

Ehe die Terroristen der FLQ den britischen Handlesdiplomaten James Richard Cross und daraufhin Quebecs Arbeitsminister Pierre Laporte verschleppten, waren Inflation und Arbeitslosigkeit die Hauptprobleme der 21,500.000 Kanadier gewesen. Pierre Trudeau — Junggeselle, Millionär, Universitätsprofessor und Freund von Barbra Streisand — dominierte die kanadische Politik wie vielleicht keiner seiner Vorgänger. Er dominierte die von ihm geführte liberale Regierung und er hatte auch in dem farblosen Robert Stanfield, dem Führer der Konservativen, keinen ernsten politischen Opponenten. Außenpolitisch war die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan und die Verhandlungen mit der VR China bemerkenswert. Für Europa war die Reduktion der kanadischen NATO-Einheiten in Deutschland politisch wichtiger. Hand in Hand damit ging die Verringerung der kanadischen Streitkräfte von 119.492 im Jahre 1964 auf nun bloß 91.000; 1973 werden es nur noch 82.000 sein. Trotz der steten Reduktion der Armed Forces werden jedes Jahr rund 7000 Rekruten angeworben. Nur Ärzte finden den Dienst in Uniform — Kanada ist ein Land ohne Wehrpflicht — nicht zu attraktiv.

Die Ursache ist pekuniärer Natur. Selbst das Jahreseinkommen kanadischer Generäle — 20.000 Dollar bis 30.000 Dollar — ist geringer als der Durchschnittsverdienst der Ärzte im , J_,and der schwarzen Bären“. Viele Kanadier, die in Friedenszeiten die Kosten der kanadischen Streitkräfte — mit 1814 Millionen Dollar für 1970 budgetiert — mit scheelen Augen betrachten, begrüßen nun den Einsatz kanadischer Truppen in Quebec und den Einzug schwer bewaffneter Crackeinheiten der 2. Kampfgruppe in Ottawa, um Politiker und Regierungsgebäude im „Washington des Nordens“ vor den Terroristen der FLQ zu schützen. Wenn man Kanada mit einem köstlichen Apfel vergleicht, dann ist Quebec der angefaulte Teil — und die FLQ der Wurm, der die ganze Frucht verderben mag, behauptet ein Chronist.

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