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Kanadas „Franzosen“

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Es gärt wieder in der größten Provinz des zweitgrößten Landes der Erde. Erhielt der separatistische Parti Quebecois bei den jüngsten Wahlen bereits 23 Prozent der Stimmen, so tritt nun Mario Beaulieu — noch im April Finanzminister der „Belle Province“ — für den Anschluß Quebecs an die USA ein. Das Beispiel Puerto Ricos fasziniert ihn. Puertoricaner sind Bürger der Vereinigten Staaten — doch Puerto Rico hat vollkommene lokale Autonomie. Puerto Rico zahlt keine direkten Steuern an Washington; zudem ist Spanisch und nicht Englisch die offizielle Sprache der Puertoricaner, die auch das Recht der unbeschränkten Einwanderung zum amerikanischen Festland haben. Heute sind Kanadas heißblütige Franzosen unzufriedener als vorher. In dieser Stimmung brechen sie oft Gesetze mit dem gleichen Elan wie Don Juan Mädchenherzen. Als etwa Montrealer Postchauffeure mit geänderten Arbeitsverhältnissen unzufrieden waren, begannen sie die Vehikel zu beschädigen. Nun hat der Montrealer Richter Lagarde drei dieser Angeklagten zu 30 Minuten(!) Gefängnis und zu Geldstrafen von 33 Dollar 33 Cents verurteilt. Er begründete das milde Urteil mit der Bemerkung, die Montrealer Polizei habe im vergangenen Oktober illegal gestreikt und „weit verbrecherischer“ gehandelt; kein einziger Polizist sei deswegen angeklagt worden, obwohl Montrealer Polizisten Autos der Gendarmerie umstürzten und streikunlustige Beamte mit vorgehaltener Waffe von ihren Posten entfernten. Allerdings haben Montrealer Polizisten kein leichtes Leben. Die Zahl der Verbrechen ir „Kanadas Paris“ ist beängstigend groß; im Vorjahr gab es dort allein 2731 Raubüberfälle!

Der Soziologe Alinsky hat kürzlich behauptet, daß die Slums von Montreal zu den ärgsten Nordamerika; gehören, doch auch anderswo ist di( Not in Quebec groß. In Cabona (Bevölkerung 3500) — 125 Meilen vor Quebec-City entfernt — erreicht die Arbeitslosigkeit im Sommer bis zi 25 Prozent und klettert im Wintei bis auf 60 Prozent. Als die D'Auteui Lumber Co. in diesem Gebiet di< Abholzune der Forste fortsetzte ohne die versprochene Holzfabrik zu errichten, setzten arbeitslose Einwohner von Cabano die Holzlagerplätze, aber auch Brücken, die zu den Waldungen der Firma führten, in Brand.

Interessanterweise hat Quebec einen größeren Einfluß auf Kanadas Politik als jede andere Provinz. Allein Montreal ist durch sechs Minister — darunter den Regierungschef Pierre Trudeau — im Kabinett repräsentiert, während das fast gleich große Toronto nur drei Minister nach Ottawa entsendet. Schon hat British Columbias Premier Bennett behauptet, die Geschicke dieses Landes würden nicht von einer kanadischen, sondern von einer „Quebecer Regierung“ geführt. Er begründet dies mit der Feststellung, daß die Quebecer Pierre Trudeau, Gerard Pelletier (Seoretary of State) und Jean Marchand (Development Minister) in Ottawa den Ton angaben. Es entbehrt nicht einer gewissen Plkän-terie, daß die 2,316.000 Einwohner Torontos im letzten Jahr 18,3 Prozent der gesamten Einnahmen des kanadischen Staates an Steuern zahlten; die 2,553.000 Montrealer hingegen bloß 10,5 Prozent! Anderseits sicherte sich Montreal und nicht Toronto die Expo 67, die große Weltausstellung — und die Sommerolympiade 1976.

Mittlerweile bereitet sich Montreals dynamischer Bürgermeister Jean Drapeau auf den kommenden Wahlkampf vor. Sein Opponent Claude Longton, ein Separatist, tritt dafür ein, daß sich das schwer verschuldete Montreal bankrott erkläre; dies könnte die städtischen Schulden — und die Steuerlast — um 50 Prozent 'reduzieren. Zudem fordert Longton die Legalisierung der Prostitution, da dies in „Kanadas Paris“ tausende neue Arbeitsplätze schaffen würde. Auch würde die Eröffnung von Spielkasinos ä la Las Vegas willkommene Einnahmen bringen und die Erhöhung der Wohlfahrtszahlungen um 25 Prozent ermöglichen. Wie in früheren Jahren zieht auch dieses Mal wieder Bürgermeister Jean Drapeau als haushoher Favorit in den Wahlkampf. Er hat bereits seinen Montrealern versichert, daß sie die Olympiade 1970 keinen Cent kosten werde — was alle anderen Kanadier mit sehr gemischten Gefühlen hörten.

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