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Kein Siegesbankett

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Immer wieder flackern die Flammen der Unruhe in Quebec, Kanadas größter Provinz, auf. Die Inhaftierung der Gewerkschaftsführer Louis Labenge, Marcel Pepin und Yvon Charbonneau — die im April einen elf Tage währenden Streik der Staatsangestellten organisiert hatten, der gegen die Gesetze verstieß — hat ihnen eine Gefängnisstrafe von zwölf Monaten eingebracht und zu Streiks, Bombenexplosionen und der Besetzung von Hörfunksendern geführt.

Immer mehr Streiks

„Ist das der Beginn der Rebellion in Quebec?” forschte der „Toronto Daily Star”, Kanadas größte Zeitung. Bomben explodierten, auf den Zufahrtsstraßen von Montreal störten verstreute Nägel und brennende Autos den Verkehr. Quebecs Justiz-minister Jeröme Choquette berichtete, daß starke Einheiten der Alarmpolizei an strategisch wichtigen Stellen postiert seien. So gespannt war die politische Lage, daß die Kabinettsminister Castonguay und L'Allier — unzufrieden mit der Politik des Regierungschefs Bou-rassa — vorerst von ihrem Rücktritt absahen. Auf dem Höhepunkt der Unruhen verhinderten die Streikenden das Erscheinen der sechs Tageszeitungen Montreals. In Montreal streikten auch 95 Prozent der 40.000 Bauarbeiter. In Quebec blieben fast 80 Prozent der 2700 Lehrer den Schulen fern. In St. Jeröme, nördlich von Montreal, besetzten Streikende den Hörfunksender, der sechs Studenten unter ihrer Kontrolle blieb. Auch in Hauterive wurde der Hörfunksender von Anhängern der inhaftierten Gewerkschaftsführer besetzt. In Trois-Rivieres wurden sogar vier Spitäler von der Arbeitsniederlegung erfaßt. Besonders massiv war der Streik in Sept-lles, Kanadas bedeutendstem Hafen für die Verschiffung von Eisenerz, einer Hochburg der frankokanadischen Separatisten. Hier warf die Polizei auch Tränengas von Hubschraubern ab, um die Demonstranten zu zersprengen.

Quebecs bedeutende Arbeitslosigkeit und die Aktivität der Separatisten lassen „La Belle Province” nicht zur Ruhe kommen. Weite Kreise sind der Ansicht, daß die Ausbeutung der riesigen Bodenschätze durch anglo-kanadische und durch US-Konzerne den Quebekern (80 Prozent der 6,000.000 Einwohner sind Franko-Kanadier) nicht genügend Vorteile bringe. Die Separatisten glauben, daß mit der Ausrufung einer franko-kanadischen Republik für Quebec ein neues Zeitalter anbrechen werde, falls dies nicht auf den (bewaffneten) Widerstand von Ottawa stößt.

Louis Laberge, der radikalste der inhaftierten Gewerkschaftsführer, hat nie seine Sympathien für die Separatisten verleugnet. Als er gefragt wurde, wieso er denn für eine Bewegung, die kein Programm auf lange Sicht habe, eintreten könne, konterte er: „Wer angegriffen wird, hat doch keine Zeit, das Siegesbankett vorzubereiten.”

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