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Ein unabhängiges Quebec?

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„Das quietschende Rad wird am meisten geschmiert”, sagt man in Toronto, wenn von der riesigen Provinz Quebec (Bevölkerung: 5,400.000) die Rede ist. Immer wieder steht „La belle Province” im Brennpunkt des kanadischen Interesses. 83 Prozent der Bewohner Quebecs sind Franko-Kanadier. Heißköpfige Separatisten unter ihnen fordern die Errichtung eines unabhängigen, französischsprachigen Staates. Junge Terroristen, als Bombenwerfer verurteilt, sind bereits hinter Gittern.

Doch das ausländische Kapital schätzt die Zukunft Quebecs sehr optimistisch ein. General Motors wird 50 Millionen Dollar in ein neues Werk bei Ste. Therese investieren. Eine Jahresproduktion von 2500 Autos ist vorgesehen. Renault und Peugeot erwägen die Montage und die Erzeugung von Bestandteilen in Quebec — wenn die von Ottawa gemachten Konzessionen großzügig genug sind. Im St. Lawrence Valley soll eine integrierte Stahlindustrie entstehen. Schon künden Vorhersagen für das Jahr 1964 eine 18prozentige Erhöhung der industriellen Expansion Quebecs an, verglichen mit einem nationalen Durchschnitt von nur acht Prozent. Hochkonjunktur und Separatisten.

Immer wieder fordert Quebec „mehr Rechte”, und die Bundesregierung in Ottawa ist zu neuen Konzessionen bereit. Die große Weltausstellung des Jahres 1967, zum 100. Geburtstag der Nation, wird denn auch in Montreal, dem „Paris der Neuen Welt”, stattfinden. Die Zahl prominenter Franko-Kanadier im Staatsdienst wird von Jahr zu Jahr größer — und auch bei neuen Gesetzen scheinen die Wünsche Quebecs besondere Berücksichtigung zu finden.

Doch die Separatisten geben sich damit nicht zufrieden. „In Quebec ist der Lebensstandard um 28 Prozent niederer als in der Provinz Ontario!” donnert Pierre Bourgault, Präsident der Rassemblement pour LTndependence Nationale, die 7000 Mitglieder hat. Er weist darauf hin, daß die Regierung in Ottawa Weizen an die Sowjetunion verkaufe, um den Farmern der Prärie zu helfen, aber Textilien aus Polen importiere. „In Montreal, wo 57 Prozent der kanadischen Textilien erzeugt werden, müssen unsere Fabriken ihre Produktion reduzieren!” behauptet Bourgault. Nicht lange vorher hatte Dr. Marcel Chaput, ein anderer Separatistenführer, in der anglo-kana- dischen Metropole Toronto behauptet, daß eine Ermordung der Königin — während ihres bevorstehenden Besuches in Quebec — möglich sei.

Frankreichs Interesse

Bis zum 13. September 1759 wehte die französische Flagge über Quebec. Erst als die Briten unter General Wolfe die Anhöhen von Quebec City stürmten, endete der Kampf um die Vorherrschaft in Nordamerika zu ihren Gunsten.

In jüngster Zeit wurde Frankreichs Interesse an Quebec wieder wach. Bei der eindrucksvollen „Exposition Francaise” im Herbst des Vorjahres in Montreal erklärte Kulturminister Andrė Malraux: „Frankreich macht sich Vorwürfe, weil es das französische Kanada vernachlässigte. Aber damit ist es vorbei! Nun werden wir gemeinsam die französische Kultur von morgen schaffen.”

Heute erklären Quebecs Separatisten: „Wir müssen Herren im eigenen Haus sein. Schließlich ist Quebec dreimal so groß wie Frankreich und dreizehnmal so groß wie Kuba!”

Im Zeichen des Ahornbaumes

Mittlerweile verschwindet ein weiteres Symbol der anglo-kanadischen Vorherrschaft. Schon im Jahre 1836 hatte der Nationalist Denis Viger in Montreal erklärt: „Der Ahombaum ist der König unserer Wälder; er ist das Symbol unseres Volkes!” Bisher war der britische Union Jack auf der kanadischen Flagge, doch er erinnerte Quebec an die britische Kolonialzeit. Nun hat sich Premierminister Lester Bowles Pearson, der Friedensnobelpreisträger, für eine Fahne mit drei roten Ahomblättern entschieden; eine weitere Konzession Ottawas an die zweitgrößte, 5,500.000 Köpfe zählende Volksgruppe.

Trotz vereinzelter Gewaltakte der jungen Separatisten bekennt sich die überwiegende Mehrzahl der Bewohner Quebecs zum kanadischen Staat. Sie stimmen mit dem wohl einflußreichsten Journalisten der Provinz, Andrė Laurendeau, überein, der schreibt: „Wenn Sizilien sich von Italien, die Bretagne von Frankreich lösen würde, wäre das nicht der Weg zur Anarchie?”

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