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„Frankreichs Sudetenland“

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Das Erscheinen von Maurice Couve de Murville bei dem Begräbnis des Regierungschefs von Quebec manifestiert wieder das große Interesse von Paris an Kanadas Franzosen. Jean-Jacques Ber- trand (52), bisher Justizminister der Belle Province, übernimmt die Regierungsgeschäfte von Quebec und damit die Führung der Frankokanadier in einem kritischen Augenblick. Seine Partei — Union Nationale — hat einen mit dem Separatismus sympathisierenden Flügel, dessen profilierteste Persönlichkeit Kulturminister Tremblay (der sich zur Zeit noch auf ultranationalistische Reden beschränkt) ist.

Zauderer „Hamlet"

Bertrand, Kleinstadtanwalt und Abgeordneter von Missisquoi, gilt — ungleich seinem verstorbenen Vorgänger Daniel Johnson — als Mann der Mitte; seine Neigung. Auseinandersetzungen zu vermeiden und schwierige Entscheidungen zu verschieben, haben ihm allerdings in der Union Nationale den Beinamen „Hamlet“ eingetragen. Während Premier Daniel Johnson, in dessen Adern französisches und irisches Blut rollte, gerne mit der Absplitterung Quebecs drohte, um die Erfüllung seiner Forderungen in Ottawa zu erzwingen, besitzt der neue Premier den Ruf eines Politikers, der konziliantere Mittel vorzieht, um gesteckte Ziele zu erreichen.

Aus den Reihen der eigenen Partei, von seiten der von Ren6 Levesque (dem liberalen Exminister) geführten Separatisten und von den Liberalen, die bis 1966 die Regierung icon Quebec bildeten, drohen Premier Jertrand Gefahren. Zudem kann nie- nand Voraussagen, welche Strategie Paris plant, und — mit den Worten des kanadischen Historikers Eugene Forsey — „Präsident de Gaulle scheint zu glauben, daß Quebec Frankreichs Sudetenland ist“.

Bis 1759 wehten Frankreichs Banner über Quebec — und Immer noch tagt ein französischsprechendes Parlament In Kanadas größter Provinz. Jules Verne bezeichnet nach einem Besuch Quebecs die freiheitsliebenden Frankokanadier als Vorbild für die Franzosen von Elsaß-Lothringen näch dem Krieg von 1871. Und Pre- mier Maurice Couve de Murville erklärte noch als Außenminister: „Französisch-Kanada ist ein nationales Problem für Frankreich."

Mäßige Sympathien für Paris

Interessanterweise beschränkt die von Bertrand geführte Union Nationale ihre Aktivität ausschließlich auf La belle Province. Die stärksten Kontingente der Quebecer Abgeordneten im Bundesparlament von Ottawa werden von Pierre Trudeaus Liberalen und Real Caoettes „Cre- ditistes“ gestellt. Ihre Sympathien für Präsident de Gaulle halten sich in durchaus mäßigen Grenzen.

Real Caouette, der Führer der Cre- ditistes, aus Paris zurückgekehrt, berichtet: „Man sagt uns, daß

Frankreich unsere Rettung sein wird, aber es ist weit wahrscheinlicher, daß Kanada wird Frankreich retten müssen. Frankreich hatte anscheinend nicht einmal genügend Kapital, um Fiats Kontrolle von Citroen zu verhüten. Die Löhne in Frankreich sind bloß 50 Prozent von jenen in Kanada, doch Butter beispielsweise kostet fast doppelt soviel.“ Zusammenfassend erklärte Caouette: „Bevor die Franzosen versuchen, unsere Probleme zu lösen, sollten sie sich um ihre eigenen kümmern!“

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