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Wird Kanada gespalten?

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Der neue Ministerpräsident der französischsprachigen Provinz Quebec, Jean-Jacques Bertrand, gab soeben bekannt, daß man in Quebec, wenn nötig, noch in diesem Jahr eine Volksabstimmung über die Frage der künftigen Beziehungen zwischen Quebec und Ottawa veranstalten werde. Monsieur Jean-Jacques Bertrand hat es nicht leicht: Zum erstenmal werden bei den kommenden Wahlen die Separatisten als neue, organisierte Partei auftreten, während sich auch in der eigenen Partei des föderalistisch eingestellten Ministerpräsidenten verschiedene nationalistische Strömungen geltend machen.

Trotz der in vieler Hinsicht Ottawa gegenüber eingenommenen konzilianten Haltung des neuen Premierministers glauben politische Beobachter, daß sich für die kommende Zeit eine Verschärfung im Machtkampf zwischen Quebec und Ottawa abzeichnet.

Die Sonderstellung der Frankokanadier

Der Verfasser dieser Zeilen wurde im französischsprachigen Teil Kanadas geboren, lebte aber in fünfzehn anderen Ländern und glaubt, die Autonomiebestrebungen der Französischkanadier in ihren gesamtkanadischen und weltweiten Auswirkungen ganz objektiv und unvoreingenommen beurteilen zu können. Viele der mehr als ein Viertel der kanadischen Gesamtbevölkerung betragenden Frankokanadier sind überzeugt, daß sie nach ihrer Religion, Kultur, Tradition und Abstammung eine naturgegebene Sonderstellung einnehmen, der die gegenwärtige Struktur Kanadas nicht Rechnung trägt. Auch wissen sie, daß Kanada in seiner Gesamtheit hauptsächlich der katholischen Kirche und den Französischkanadiern seine . unabhängige Existenz verdankt.

In anderen Ländern, und insbesondere in Frankreich, werden oft die Frankokanadier nicht richtig beurteilt. Den weitaus meisten französischsprachigen Kanadiern erscheint, trotz ihrer oft lautstarken Forderungen nach weitestgehender Autonomie, die Idee eines Aufgehens des französischen Kanada in einem „vergrößerten Frankreich“ als absurd. Sie fühlen sich keineswegs als „Franzosen“. Sie selbst machen oft französischen Einwanderern den Vorwurf der Überheblichkeit und so manche kommen gerade nach längeren Besuchen jenseits des Ozeans als noch bessere Kanadier nach Hause, da sie „drüben“ manche der besten kanadischen Charakterzüge vermissen, wie echte Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, Ablehnung zweckloser bürokratischer Behinderungen usw. ebenso wie die echte Religiosität, die viele katholische frankokanadische Gemeinden kennzeichnet. Gerade solche Kanadier sind geradezu empört, wenn man sie von offizieller Seite in Paris als „kanadische Franzosen“ statt als „französische Kanadier“ bezeichnet. Die Reaktion auf de Gaulles Auftritt im Vorjahr, den viele Kanadier als „unentschuldbare Einmischung in innere Angelegenheiten Kanadas" ansahen (ein liberaler Abgeordneter verlangte sogar seine Ausweisung), dürfte den General veranlaßt haben, auf ein persönliches Erscheinen bei der Beisetzung des kürzlich plötzlich verstorbenen Vorgängers des gegenwärtigen Premierministers von Quebec zu verzichten.

De Gaulles Irrtum

Bei der Beurteilung der gegenwärtigen Lage in Kanada übersehen viele Kommentatoren, auch in Europa und in den USA, die Tatsache, daß bis vor kurzem der Einfluß de Gaulles in Quebec auch durch politische Faktoren gestärkt wurde, die heute plötzlich ihre Geltung verloren haben. So hat die CSSR-Besetzung sein Konzept „Europa bis zum Ural“ unglaubwürdig gemacht. In diesem Zusammenhang betrachteten viele in Quebec den General als Vertreter eines mittelgroßen Staates, der sich gegen die Vormundschaft der größten Weltmächte erhob. Die relative Abhängigkeit Kanadas von den USA ist vielen Kanadiern unbequem; drei Viertel der ausländischen Investitionen in Kanada gehören Bürgern der USA, und der Absatz von USA-Zeitungen und -Zeitschriften in Kanada beträgt ein mehrfaches des Absatzes der kanadischem Alle diese Zusammenhänge stärkten bis vor kurzem de Gaulles Einfluß in seiner Rolle als „Bekämpfer des Übergewichtes der großen Weltmächte“.

Die Haltung der meisten maßgebenden Geschäftsleute und Industriellen in Quebec zu den separatistischen Tendenzen ist ausgesprochen „kalt und nüchtern“. Sie wissen, daß die Provinz Quebec im Rahmen Gesamtkanadas gewaltige wirtschaftliche Fortschritte erzielt, die eine Loslösung aus dem kanadischen Staatsverband schwer beeinträchtigen würde.

Ein Ende September 1968 von einflußreichen Persönlichkeiten unter den 33.000 Mitgliedern der Handelskammern von Quebec herausgegebener detaillierter Bericht im Umfang von 55 Seiten bestätigt die Tatsache, daß sich eine Loslösung Quebecs von Kanada für die Provinz in wirtschaftlicher Beziehung sehr nachteilig auswirken würde.

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