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„Das Land, das zu schnell zu weit gegangen ist...“

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Das Werben um die Gunst der Wähler hat in ganz Kanada bereits begonnen. Denn in Ottawa kursieren bereits Gerüchte, die Stimmenabgabe werde am 19. Juni oder eine Woche später erfolgen. Pierre Trudeau, Millionärssproß aus Montreal, der die Geschicke des zweitgrößten Landes der Erde seit 1968 leitet, sieht der Entscheidung mit gemischten Gefühlen entgegen. Schließlich ist die Bilanz seines Regimes nicht gerade eindrucksvoll.

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Das Werben um die Gunst der Wähler hat in ganz Kanada bereits begonnen. Denn in Ottawa kursieren bereits Gerüchte, die Stimmenabgabe werde am 19. Juni oder eine Woche später erfolgen. Pierre Trudeau, Millionärssproß aus Montreal, der die Geschicke des zweitgrößten Landes der Erde seit 1968 leitet, sieht der Entscheidung mit gemischten Gefühlen entgegen. Schließlich ist die Bilanz seines Regimes nicht gerade eindrucksvoll.

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In La Belle Province - 6,200.000 Einwohner, davon 81 Prozent fran-zösicher Abstammung - ist seit November 1976 eine separatistische Regierung an der Macht, deren Ziel die Ausrufung der Republik Quebec ist. Uber eine Million Kanadier (8,3 Prozent der Arbeitnehmer) sind arbeitslos. Die Inflation ist auf 9 Prozent geklet-ter. Kanadas Dollar (noch 1976 wertvoller als sein amerikanischer Vetter) hat den geringsten Wert seit 45 Jahren und ist auf 88 US-Cents abgerutscht. Die Situation wird sarkastisch in einer Karikatur im „Toronto Star“, Kanadas größter Tageszeitung, dargestellt, die einen Bettelmusikanten zeigt. Neben ihm der leere Geigenkasten mit dem Zettel: „Muß notleidenden Dollar unterstützen.“ Die Krempe am schäbigen Zylinder des Bettelmusikanten trägt die Aufschrift: „Bank of Canada.“ -Die Staatsbank...

Es ist Pierre Trudeaus Dilemma, daß er seit zehn Jahren die Regierung führt, deshalb auch niemand anders für die prekäre Lage der Nation verantwortlich gemacht werden kann. In seiner Rede vor amerikanischen Wirtschaftsführern konzedierte er vor kurzem: „Wir gingen zu schnell zu weit!“

Vor den Wahlen 1974 traten die Konservativen für die Einführung von Preis- und Lohnkontrollen ein. Die Liberalen siegten, weil sie gegen die unpopulären Kontrollen waren. Folge war, daß die Inflation immer größer wurde. 1975 kletterten die Löhne in Kanada im Schnitt um 22 Prozent:

Trudeau, der seinen Triumph bei den Wahlen von 1974 vorwiegend dem Kampf gegen die Kontrollen verdankte, mußte diese nun doch einführen. Doch die überhöhten Löhne machten Kanada immer weniger konkurrenzfähig. Im vergangenen Jahr importierte das Land Waren für 28 Milliarden Dollar, dreimal so viel wie 1970. Wirtschaftsfachleute behaupten, daß diese zusätzlichen Importe bereits den Verlust von 250.000 Arbeitsplätzen verursacht hätten.

Die Strategen der liberalen Regierungspartei haben beschlossen, aus der Not der innenpolitischen Lage eine Tugend zu machen. Dabei dient die mögliche Sezession der Provinz Quebec (größer als Frankreich und Spani-

en) als Mittel zum Zweck: Die Liberalen wollen die Wähler davon überzeugen, daß der Quebecois Pierre Trudeau (58) ein weit wirkungsvollerer Gegenspieler für den dynamischen Separatistenführer Rene Levesque (55) ist, als der 39jährige Joe Clark, der ein wenig bekannter Hinterbänkler war, ehe ihn die Konservativen im Februar 1976 zu ihrem Parteichef kürten. Die innenpolitischen Wortgefechte werden deshalb auch immer härter. Donnert Pierre Trudeau: „Die meisten Kanadier verstehen, daß die Zersplitterung ihrer Heimat ein Verbrechen gegen die Geschichte der Menschheit wäre“, kontert Rene Levesque, der Premier von Quebec: „Es wird immer sicherer, daß eine neue Nation auf der Landkarte aufscheinen wird.“

Seit 1759, als die von General James Wolfe geführten britischen Truppen in Quebec über die Franzosen triumphierten, fühlen sich viele Quebecois als Unterdrückte. Anno 1831 notierte Alexis des Tocqueville in Quebec: „Die große Majorität ist hier Französisch. Aber es ist leicht zu erkennen, daß die Franzosen eine besiegte Rasse sind.“ Heute hat die Unzufriedenheit der Quebecois verschiedene Ursachen. So ist die Dominierung des Wirtschaftslebens in La Belle Province durch An-glo-Kanadier offenkundig: Nur 9 der 91 größten Konzerne von Quebec werden von Franko-Kanadiern geführt. Die Löhne in Quebec sind im Schnitt um 23 Prozent niedriger als in der Nachbarprovinz Ontario, auch ist die Arbeitslosigkeit stets höher.

Von den 264 Abgeordneten des Bundesparlamentes, repräsentieren 72 Mandatare die Wähler von La Belle Province. In der Sphäre der Staatspolitik gilt Quebec als traditionelle Hochburg der Liberalen. Bei den letzten Wahlen sandte Quebec nicht weniger als 60 liberale Abgeordnete nach Ottawa. Obwohl die Konservativen in den anderen Provinzen besser abschnitten, machte der enorme Vorsprung der Liberalen in Quebec Pierre Trudeau wieder zum Regierungschef. Im Wahlkampf wird Trudeau versuchen, die Quebecois davon zu überzeugen, daß es für sie weit vorteilhafter ist, bei Kanada zu bleiben. Gleichzeitig muß Trudeau die „Anlos“ davon überzeugen, daß er ihre Interessen - kein Kampf um Quebec - besser vertreten kann, als der relativ unerfahrene, junge Toryführer Joe Clark.

Trotz der relativ ungünstigen Wirtschaftslage der Nation gilt Pierre Trudeau als Favorit bei den kommenden Wahlen. Siegt er über die Konservativen, ist es trotzdem zweifelhaft, ob ihm die Eroberung der parlamentarischen Mehrheit gelingen wird: Die Sozialisten, die etwa 18 Prozent der Wähler repräsentieren, könnten das Zünglein an der Waage werden. Ihr Führer Ed Broadbent hat den Regierungschef bereits mit Muhammed Ali, dem entthronten Boxweltmeister, verglichen. Wie Ali habe auch Trudeau keine neuen Tricks mehr auf Lager...

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