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Von Montreal nach Mexiko?

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In „Kanadas Paris“ erreicht der Wettlauf mit der Zeit dramatische Höhepunkte. Streiks der Bauarbeiter haben die Sammerolympiade 1976 bereits derart gefährdet, daß Bürgermeister Jean Drapeau erklärte, eine Absage werde dazu führen, daß Montreal die kostspieligsten Ruinen der Welt besäße. Schon werden die Kosten für die Steuerzahler auf 450 Millionen Dollar geschätzt, wenn die Olympischen Spiele nicht in Montreal abgehalten werden können ...

Die Zeitnot wird immer drückender. Obwohl nach dem mehrwöchigen Streik auf dem Olympischen Gelände hier seit dem Winter 21 Stunden am Tag gearbeitet wird, hat der neue Konflikt mit den Bauarbeitern zu einer weiteren Zuspitzung der Lage geführt.

Die Durchsetzung der Bauarbeitergewerkschaft mit korrupten und verbrecherischen Elementen hatte die Regierung von Quebec veranlaßt, eine Königliche Kommission unter Richter Robert Cliche einzusetzen, um die Zustände zu durchleuchten. Der 603 Seiten starke Bericht dieser Royal Commission fand heraus, daß die Mißstände bei der Bauarbeitergewerkschaft alle Befürchtungen noch übertrafen. Der Bericht er-

wähnt Bestechungen, Erpressungen und den Einsatz von „rauhen Gesellen“ durch korrupte Funktionäre. Die Cliche-Komimission empfahl deren Ausstoßung. Zudem riet die Kommission, die Führung von vier Gewerkschaftseinheiten an Bevoll-

mächtigte der Regierung zu übertragen. Da Richter Cliche früher Führer der Sozialistischen Partei von Quebec gewesen war, konnte er kaum einer Animosität gegenüber Gewerkschaften bezichtigt werden. Der militante Gewerkschaftsver-

band nahm die Herausforderung der Regierung an und traf sie an ihrer verwundbarsten Stelle: neuerlicher Streik bei den Olympia-Bauten. Robert Bourassa, Quebecs junger Premier, konterte schnell mit der Bemerkung, er sei bereit, die Olympischen Spiele zu opfern, um die „soziale Ordnung“ wiederherzustellen. Er fand volle Unterstützung bei Premierminister Pierre Trudeau. Etliche Kanadier fanden es „shocking“, als bekannt wurde, Mexiko-City sei bereit, die Olympischen Spiele im kommenden Jahr abzuhalten — falls dies nicht in Montreal möglich sei.

Die Montrealer sind die streiklustigsten Kanadier. Bei ihnen streiken selbst die Polizei und die Feuerwehr — oder sie drohen damit. Bei Kanadas Post sind Streiks keine Seltenheit, aber die Postler von Montreal streiken häufiger als ihre Kol-

legen anderswo im Land. Mitunter kommt es auch bei Arbeitskonflikten in der Belle Province zu schweren Zusammenstößen.

Immer noch ist Bürgermeister Jean Drapeau optimistisch oder er bemüht sich, so zu erscheinen. Bemerken Reporter, „es sei später, als der Bürgermeister glaube“, so antwortet er, man habe den gleichen Vorwurf vor der Montrealer Weltausstellung von 1967 erhoben und doch habe damals letztlich alles geklappt.

Mittlerweile stürmen die Kanadier zu den Kassen der Verkaufsstellen, um sich Eintrittskarten für die Olympischen Spiele zu sichern. Optimismus ist die Lieblingsspeise der Seele. In Montreal bemerkte ein „Neukanadier“ aus Wien philosophisch: „Die Lage ist eben verzweifelt, aber gar nicht ernst...“

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