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Gott in Frankreich...

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Nun ist die schöne, die schreckliche Zeit zu Ende. Der Lebens, mittelhändler grüßt verschmitzt seine Stammkunden und erzählt ausführlich von Ferienabenteuern. Der Fleischhauer in der Rue du Rendez-vous und seine rundliche Gattin erforschten die exotischen Gefilde von Marokko. Der Hauscoiffeur berichtet strahlend von einer sagenhaften Reise nach Japan. 25 Millionen Franzosen haben den Monat August dazu benützt, um Städte und Fabriken, Büros und Geschäfte, Kaufhäuser und Ministerien zu verlassen und sich auf den weiten Sandstränden der Bretagne oder auf den Felsen der Cöte d'Azur die Haut rösten zu lassen.

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Nun ist die schöne, die schreckliche Zeit zu Ende. Der Lebens, mittelhändler grüßt verschmitzt seine Stammkunden und erzählt ausführlich von Ferienabenteuern. Der Fleischhauer in der Rue du Rendez-vous und seine rundliche Gattin erforschten die exotischen Gefilde von Marokko. Der Hauscoiffeur berichtet strahlend von einer sagenhaften Reise nach Japan. 25 Millionen Franzosen haben den Monat August dazu benützt, um Städte und Fabriken, Büros und Geschäfte, Kaufhäuser und Ministerien zu verlassen und sich auf den weiten Sandstränden der Bretagne oder auf den Felsen der Cöte d'Azur die Haut rösten zu lassen.

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Einige Millionen zog es nach Spanien, das sich im Sommer stets in eine französische Provinz verwandelt. Durch die bisherigen Devisenbeschränkungen bedingt, wurden Reisen in die weite Welt seltener gewagt. Vom Staatspräsidenten bis zum Museumswärter des Louvre flüchten die Franzosen in der gewaltigen Völkerwanderung des Sommers und stellen dem Staate zahlreiche wirtschaftliche und soziale Probleme. Man bedenke nur, daß im Monat August die nationale Produktion um 45 Prozent zurückgeht, gegenüber 14 Prozent in Italien, 11 Prozent in Holland, 9 Prozent in Belgien und 5 Prozent in Deutschland. Falls nicht eine unmittelbare Kriegsgefahr den

Frieden der „Augustler“ bedroht, kümmert sich niemand um weltpolitische oder nationale Ergeignisse. Der Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages wurde von Millionen Sonnen-, Luft- und Wasserhungrigen genausowenig zur Kenntnis genommen wie die Abwertung des Francs im vergangenen Jahr. Als der frischgebackene Abgeordnete von Nancy, Servan-Schreiber, anerkanntes Wunderkind der Innenpolitik — ein Clown, ein Boulanger, der Polit-technokrat des kommenden Jahrzehnts — mitteilte, bei der Nachwahl in Bordeaux energisch mitzumischen, drehe sich Monsieur Dupont zufrieden von der einen auf die andere Seite und kritisierte nachsichtig das

Verhalten des Jungabgeordneten, dem nicht einmal der Sommer heilig sei.

Paris ist während des August eine tote Stadt. Kenner behaupten, daß es zu keiner Zeit so angenehm sei, dort zu leben, wie im Monat August. Der Charme einzelner Plätze, die Schönheit der Boulevards, die Seine-Quais werden von den Ausländern entdeckt, die erstmals wieder seit Jahren Frankreich zum Reiseland bestimmten.

12 Millionen Amerikaner, Deutsche, Engländer, Belgier, Skandinavier und Japaner mischten sich mit den Einheimischen, wobei das deutsche Kontingent mit einer Zunahme von 66 Prozent gegenüber 1969 das Stadtbild von Paris sowie die mondänen Badeorte bestimmte.

Bisher waren die Hotels als veraltet und unhygienisch verschrien, die Preise galten als horrend und Paris rühmte sich, neben New York die teuerste Stadt der Welt zu sein. Die zuständigen Fremdenverkehrsbehörden haben in diesem Jahr eingehende Untersuchungen über die touristischen Infra-Strukturen angestellt, die Preise überprüft und verschiedene Mißstände abgeschafft. Freilich entsprechen die 1297 Pariser Hotels nicht den modernen Anforderungen. Die Chefin des städtischen Empfangskomitees bedauert: „Bei uns wurde leider nichts zerstört und es ist fast unmöglich, in der Innenstadt Hotels zu konstruieren, da der Boden dafür ungeeignet ist.“ Sie gibt weiters zu: „Die hygienischen Verhältnisse könnten verbessert werden, besonders Skandinavier, Holländer und Deutsche klagen ständig darüber, aber es ist manches unternommen worden, und in den Provinzstädten entstehen Hotels, die nach letzten Gesichtspunkten gebaut werden.“ Frankreich bot in diesem Sommer seinen Gästen nicht nur die einmaligen Festivals von Avignon und Aix-en-Provence, sondern sogar kleine Städte wetteiferten in der Organisation festlicher Veranstaltungen, die beachtliches künstlerisches Niveau aufwiesen. Weltberühmte Musiker und Mimen traten in schnell umgebauten Scheunen oder fast vergessenen Kirchen auf. Lediglich die Initiatoren der Pop-Musik-Festivals, die an eine Neuauflage eines Woodstock dachten, wurden bitter enttäuscht. In der zweiten Mozartstadt des Kontinents, in Aix-en-Provence, versuchte ein Exgeneral Zehntausende europäische Jugendliche anzulocken, um drei hysterische Tage und Nächte zu feiern. Der sozialistische Bürgermeister untersagte aber diese Art von Volksbelustigung, nicht anders, als es auch Kollegen in verschiedenen anderen Städten praktizierten: „Würde Salzburg ein Treffen dieser schmutzigen Burschen und Mädchen gestatten, welche in ihrem Tornister das Rote Büchlein Maos und Haschischkugeln mit sich schleppen?“ In Frankreich ist der gutfrisierte und gutgekleidete Fremde ein gerngesehener Gast, aber der Innenminister Marcellin und seine hurtigen Polizisten jagen die Hippies, wo sie nur auftauchen.

Auch heuer war Frankreich, gemessen an internationalen Vergleichen, ein teures Reiseland. Für ein gastronomisches Essen mit Wein muß eine Person 30 bis 40 Francs auf den Tisch blättern. Das liebenswerte Bistro, wo der Gast eine halbe Stunde mit dem Besitzer über diese oder jene Spezialität oder eine bestimmte Weinsorte diskutieren konnte, ist zum Verschwinden verurteilt. Die 50prozentigen Sozialabgaben für Angestellte töten den kleinen Familienbetrieb. Dieser wird durch den kalten Self-Service-La-den ersetzt, und die Tugenden der französischen Gastronomie gehören vielfach der Vergangenheit an. Ein bekannter Küchenchef der jüngeren Generation erklärte wehmütig: „In Kürze werde ich ein Museumswächter sein. Ich versuche krampfhaft, eine Idee des 19. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten. Während die Menschen den Mond besuchen, will niemand leiblichen Genüssen huldigen.“

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