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Das lebendige Frankreich

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Die Kirchenglocken Frankreichs sind verstummt. Über dem frischen Grab in Colombey-les-deux-Eglises wirbelt der Herbstwind die Blätter. Noch immer strömen Kameraden, Widerstandskämpfer, Bauern und Bürger Lothringens in das kleine Dorf, in dem wohl einer der bedeutendsten Männer unseres Jahrhunderts seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Eifrige Schriftsteller werden sich bemühen, die Taten und das Leben dieser Persönlichkeit aufzuzeichnen, jeder seiner Entscheidungen einen historischen Sinn zu verleihen und dem Mann des 18. Juni 1940, des 13. Mai 1958, gerecht zu werden. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben sich die Gewaltigen dieser Erde, die Repräsentanten der Supermächte, die Könige des Westens, die Herren der Dritten Welt so zusammengefunden wie am 12. November 1970 in Paris. Es war eine einmalige, eine einfache, eine grandiose Kundgebung, einem Mann gewidmet, der dem Schicksal trotzte, die Phantasie der Nationen bewegte und Frankreich die Seele wieder schenkte. Charles de Gaulle leitete den endgültigen deutsch-französischen Ausgleich ein und kautionierte dank seines unerhörten Prestiges die Versöhnung zwischen den beiden Staaten des ehemaligen karolingischen Imperiums. Kein anderer hätte den algerischen Krieg beenden und dem französischen Uberseereich die restlose Souveränität sichern können. Alles das und vieles mehr werden die Historiker diskutieren, niederschreiben, untersuchen und daraus weltpolitische Perspektiven ziehen. Sie werden die Worte Rankes vom Wirken großer Männer in der Geschichte zitieren und den Ideen Präsident Nixons folgen, der von den vier Giganten der Neuzeit gesprochen hat, die nach Meinung des amerikanischen Staatsoberhauptes Eisenhower, Churchill, Adenauer, de Gaulle gewesen seien. Die Taten Oharies de Gaulles gehören bereits der Legende an. Völker und Kulturen benötigen solche Figuren, einen Cäsar, Cromwell, Friedrich II. von

Preußen oder Napoleon. Die Zeitgenossen und die kommenden Generationen werden das Bleibende im politischen Schaffen de Gaulles zur Kenntnis nehmen.

Aber davon soll heute keine Rede sein. Wir denken nur an das einmalige Erlebnis zurück, welches ein katholisches Land seinem bedeutendsten katholischen Sohn und sich selbst bereitet hat. Wer erinnert sich noch an kontestierende Priester, an theologische Spitzfindigkeiten, an Flirts mit den Marxisten, an die Unruhe der Christenheit. Jeder, der am 12. November in einer der ehrwürdigen Kathedralen war, wird auf einmal verstehen, daß über die Ängste eines Atomzeitalters hinaus die Kirche in unserer Mitte weilt. Sie ehrt die Lebenden und die Toten und bestätigt, daß der Mensch ein Geschöpf Gottes ist und den Geboten Christi gehorcht, der als Sohn Gottes den Menschen Auferstehung und ewiges Leben versprochen hat. Sie alle waren gekommen: der Atheist Podgomy und der Katholik Baudouin, der israelische Staatspräsident und der abessinische Kopte, der Sozialist Jonas und der evangelische Christ Heinemann. Die Inderin Ghandi und der Katholik Tsiranana, der dichtende Staatsmann

Leopold Sedar Senghor und die christlichen Kanzler Erhard und Kiesinger, die Juden und Maoisten, die Mohammedaner und Baptisten standen dem Kardinal Marty gegenüber, einem Kind jenes katholischen Frankreich, welches seit dem heiligen Ludwig und der Johanna von Orleans die mystischen Gemüter des Abendlandes bewegte. Die gregorianischen Gesänge, die erhabenen Orgelklänge Bachs und das bäuerliche Französisch des Erzbischofs von Paris hallten durch das gewaltige Mittelschiff dieses Domes der Christenzeit, der über Zeit und Ewigkeit die Vergangenheit an die Gegenwart, die Gegenwart an die Zukunft bindet. Der Kardinal lud diese illustre Versammlung ein, über das Thema Leben und Tod zu meditieren und an die Gerechtigkeit und den Frieden zu denken. Sie alle senkten den Kopf, der Araber und der Israeli, der Vertreter Rotchinas und die beiden mächtigsten Männer dieser Welt, der Sowjetrusse und der Amerikaner. Niemals erschien mir das katholische Frankreich lebendiger, beseelter, besser gesagt: menschlicher als in der Einfachheit dieser Liturgie, die in den hohen Wölbungen von Notre-Dame nicht die Pracht einer triumphierenden

Kirche entfaltete, sondern der Kirche, die gleichzeitig den König der Belgier, den Präsidenten von Madagaskar und der kleinen Pariser Bürgersfrau die Kommunion spendete. Für einen Augenblick berührte der Hauch des Weltgeistes alle Menschen, die guten Willens sind. Symbole gab es genug. Der Luxemburger stand neben dem mächtigsten Chef dieser Erde, der Deutsche neben dem polnischen Staatsoberhaupt und der österreichische Bundespräsident schloß die Reihe markanter afrikanischer Staatsmänner ab.

Aber nicht nur im Zentrum des Landes, dem kunstvollen Bau der gotischen Kathedrale, erlebte das katholische Frankreich den Abschied von einer Persönlichkeit, die der Jesuitenkardinal Danielou spontan mit dem heiligen Ludwig verglich.

Colombey-les-deux-Eglises: Als im Jahre 1933 ein unbekannter Offizier den verlotterten Landsitz „La Bois-serie“ kaufte, um in der Nähe der wesentlichen Garnisonen der damaligen Republik zu sein, dachte niemand, daß eines Tages das Herz einer Nation in diesem verlorenen Dorf schlafen würde. Ein kleiner, vergessener Ort, eine bescheidene Kirche und wie üblich in Frankreich, neben dem Gotteshaus der Friedhof. Etwa 340 Einwohner. Diese Leute leben im Rhythmus der Jahreszeiten, sehen mystische Figuren in den ziehenden Nebeln Lothringens, empfinden den Geruch der Erde und im Ablauf der Tage, Monate und Jahre, wissen sie um die Harmonie des Daseins, ahnen sie das Wirken Gottes in der bewegten Geschichte der Gegenwart. Ein einfaches weißes Kreuz. Von seinem Fenster aus hatte General de Gaulle sehr oft dieses Grabdenkmal betrachtet, das ihn an die frühverstorbene und vielgeliebte Tochter Anne erinnerte. Der Künder des freien Frankreich, der Schöpfer der V. Republik und des freien Afrika ruht nun auf diesem bescheidenen Friedhof und nicht, wie Napoleon, in einem Marmorsarg des Invalidendoms. Letzter Hochmut oder das entscheidende Empfinden um die Vergänglichkeit historischer Taten der Leidenschaften und des Machtstrebens? Keiner kann wirklich sagen, wie Charles de Gaulle seinen Gott sah und welches Bild der Schöpfung er sich geschaffen hat. Er war ein praktizierender Katholik und hatte es niemals gescheut, seinen Glauben öffentlich zu dokumentieren. In einer Zeit, da die christlichen und moralischen Werte in Frage gestellt werden und sich überall gesellschaftliche Auflösungserscheinungen zeigen, bewies er den Mut, die christlichen Einrichtungen zu unterstützen, zu schützen und deren Wert hervorzuheben. Keine andere Persönlichkeit der Geschichte hat seiner Gattin gegenüber öffentlich solchen Respekt gezeigt wie dieser Menschenverächter. Den Gästen der Pariser Trauerzeremonie bot sich ein seltsames Bild. Als die letzten Orgelklänge in Notre-Dame ertönten und die mittelalterlichen Wasserspeier über die Cite hinaus die Städte und Dörfer Frankreichs betrachteten, stieß die Sonne durch den bedeckten Herbsthimmel und beleuchtete plastisch Kathedralen und Kirchen, Paläste und Elendsviertel der Weltstadt. Am Abend dieses historischen Tages peitschte der Regen über die glanzvollen Boulevards. Trotzdem fanden sich Hunderttausende Pariser auf den Champs-Elysees ein und bauten unter dem Are de Triomphe Berge von Blumen auf, in der Form des lothringischen Kreuzes. Das Kreuz neben dem Unbekannten Soldaten. Das Kreuz in der Dorfkirche von Colombey-les-deux-Englises, das weiße Kreuz am Grabmal Anna de Gaulles. Einer der mächtigsten Männer der Welt hat sich dazu bekannt und das Volk Frankreichs besann sich der ehrwürdigen christlichen Traditionen, füllte Kathedralen und verfallene Dorfkirchen, ließ die Glocken läuten und hob die ewigen Zeichen einer christlichen Kultur in den Himmel dieses Jahres 1970.

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