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Traumdeutung

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Der einstige deutsche Bun- deskanzler Helmut Schmidt schrieb einmal, daß fast alle seine französischen Gesprächs- partner mehr oder weniger unter dem Einfluß des strategi- schen Denkens Charles de Gaulles gestanden seien - be- sonders Francois Mitterrand. Dieser Hinweis könnte als eine Art Kommentar zu der Eile dienen, mit der Mitterrand und der deutsche Kanzler Helmut Kohl nun auf die Politische Union innerhalb der Europäi- schen Gemeinschaft drängen.

Das von de Gaulle als Vision geforderte „Europavom Atlan- tik bis zum Ural" ist kein „geschichtsfremder Irrtum" mehr, wie Helmut Schmidt meinte, sondern eine etwas andere Formulierung für das von Gorbatschow immer wie- der propagierte „gemeinsame europäische Haus ".

Charles de Gaulle war über- zeugt von der kardinalen Ge- schichtsmächtigkeit des Natio- nalstaates, deshalb schreibt er zum Beispiel in seinen „Me- moiren der Hoffnung" (1958- 1962), Deutschland müsse zu einem integrierten Bestandteil der organisierten Zusammen- arbeit der Staaten werden: „Auf diese Art wäre die Sicherheit aller zwischen Atlantik und Ural garantiert, und der Zu- stand der Dinge, Gemüter und Beziehungen würde sich in einer Weise wandeln, in der die Wiedervereinigung der drei Teile des deutschen Volkes zweifellos ihre Chance fände."

De Gaulle bezeichnet hier offensichtlich Berlin mit sei- nem Sonderstatus als dritten Teil Deutschlands. Überzeugt war der geschichtsbewußte Franzose auch davon, daß Europa niemals europäisch werden könne, „noch auch jemals seine beiden Hälften wird vereinigen können", so- lange „die Weststaaten der Alten Welt der Neuen unter- stelltbleiben".

Im März 1966 nahm er Frank- reich aus der militärischen Inte- gration der NATO (nicht aus dem Nordatlantik-Vertrag) heraus und flirtete mit der So- wjetunion, die er mit der For- mel „Detente, Entente, Coope- ration" zu gewinnen suchte.

Der Europäer de Gaulle exponierte sich in Danzig und Warschau, als er die Polen aufrief, „etwas weiter zu sehen und sich mehr zuzumuten. Sie werden die Widerstände mei- stern, die Ihnen heute unüber- windbar erscheinen".

„Die Franzosen wollen mit Träumen regiert werden ", sag- te der französische Staatsprä- sident einmal. Jetzt hat es den Anschein, als ob seine Träume sich erfüllten. Zu seinem Bot- schafterin Washington bemerk- te er, damit Europa möglich werde, dürfe die Sowjetunion nicht mehr das sein, was sie heute ist, sondern müsse wie- der Rußland werden.

Und auch das war, so scheint es, kein „ Vorgriff auf die näch- sten hundert Jahre", wie einer von de Gaulles Biographen meinte.

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