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Die Urteile eines Königs

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Fast jeden Monat offerieren die Verleger Frankreichs neue Biographien von Männern, die im Leben General de Gaulles eine Rolle spielten, ihn begleiteten oder bekämpften und das Epos des gaullistischen Abenteuers rezitieren. Niemand wird künftighin die Geschichte des Begründers der Fünften Republik begreifen können, ohne die letzten Gespräche zu würdigen, die der exilierte Monarch im lothringischen Dörfchen mit seinem einzigen Vertrauten, dem genialen Schriftsteller Andrė Malraux, führte. Leben und Tod, das Rätsel der Macht, die Bestimmung führender Staatsmänner im Ablauf geschichtlicher Entwicklungen wurden in einem Dialog zwischen Männern erörtert, die jeweils in Politik und Literatur einem Zeitalter den Stempel aufdrückten. Diese Flut von Monographien verstärkt den Wunsch, die Persönlichkeit eines der eigenwilligsten Männer der jüngsten Geschichte durch ein authentisches Selbstzeugnis kennenzulernen.

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Fast jeden Monat offerieren die Verleger Frankreichs neue Biographien von Männern, die im Leben General de Gaulles eine Rolle spielten, ihn begleiteten oder bekämpften und das Epos des gaullistischen Abenteuers rezitieren. Niemand wird künftighin die Geschichte des Begründers der Fünften Republik begreifen können, ohne die letzten Gespräche zu würdigen, die der exilierte Monarch im lothringischen Dörfchen mit seinem einzigen Vertrauten, dem genialen Schriftsteller Andrė Malraux, führte. Leben und Tod, das Rätsel der Macht, die Bestimmung führender Staatsmänner im Ablauf geschichtlicher Entwicklungen wurden in einem Dialog zwischen Männern erörtert, die jeweils in Politik und Literatur einem Zeitalter den Stempel aufdrückten. Diese Flut von Monographien verstärkt den Wunsch, die Persönlichkeit eines der eigenwilligsten Männer der jüngsten Geschichte durch ein authentisches Selbstzeugnis kennenzulernen.

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Mit einer Auflage von 400.000 bestellten Exemplaren erschien Ende März der zweite, unvollendete Band der Memoiren, įn denen Charles de Gaulle die Bilanz seiner Herrschaft 1958 bis 1969 ziehen wollte. Am Höhepunkt der Amtstätigkeit wurde in Paris das Gerücht verbreitet, de Gaulle habe ein politisches Testament verfaßt, welches der „Staatsnotar“ Palewski, seines Zeichens Vorsitzender des Obersten Staatsrates, also des Verfassungsgerichtshofes, hüte. Diese Annahme erwies sich als falsch. General de Gaulle beabsichtigte, eine Art politisches Glaubensbekenntnis zu hinterlassen. „Ich plane, ein philosophisches Kapitel zu verfassen, um mein Urteil über die Situation Frankreichs, Europas und der Welt zu formulieren“, heißt es in einem Brief, datiert vom 13. Mai 1970 an Pierre- Louis Blanc, der vom Verfasser beauftragt worden war, entsprechende Dokumente zu sammeln, sie zu selektionieren und dem Schreiber der „Memoiren der Hoffnung“ als Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Der plötzliche Tod des Generals im November 1970 hat die Geschichtsforschung um ein wertvolles Dokument gebracht. Hätte General de Gaulle wirklich die Veröffentlichung der zwei Kapitel des weiteren Memoirenwerkes in dieser publizierten Form gutgeheißen? Es stellt einen Torso dar. Bei eingehender Lektüre gewinnt man den Eindruck, daß es sich um einen ersten und flüchtigen Entwurf handelt, der gemäß der Methode des Verfassers vielfältigen Änderungen unterworfen wäre. Die Urteile sind selten ausgewogen. Sie entsprechen dem Charakter eines Mannes, der sich und sein Volk sieht, aber die Individuen im letzten verachtet, königliche Privilegien beansprucht und dessen Selbstgerechtigkeit keine Nuancen kennt.

Die beiden Kapitel des zweiten Bandes behandeln lediglich begrenzte Themen: die Wahl des Präsidenten der Republik durch einen freien Volksentscheid und die wirtschaftlich-sozialen Mutierungen des Jahres 1962/63. In der Tat bildete das Jahr 1962 eine eindrucksvolle Zäsur im Aufbau der Fünften Republik. Laut Verfassung des Jahres 1958 sollte der Staatschef von sämtlichen Bürgermeistern designiert werden. Natürlich waren sich die Juristen klar, daß ein Gemeindevorsteher, der das tägliche Schicksal von 500 oder 1000 Familien verwaltet, nicht denselben politischen Wert besitzt wie ein Mann, der Lyon, Marseille oder Straßtourg repräsentiert. Die Bürgermeister der Dörfer sind extrem konservativ. Sie wären kaum geneigt gewesen, die kühnen Sozialreformen de Gaulles zu akzeptieren. Außerdem war die Staatephilosophie des Befreiers Frankreichs, bereite 1947 in einer Rede konzipiert, durchaus eindeutig: Die Nation überträgt ihre sämtlichen Rechte, einschließlich der juridischen Prärogativen, auf sieben Jahre dem Staatschef, der damit die alleinige republikanische Legitimität inkarniert. Nachdem gerade 1962 das Leben des Staatechefs außergewöhnlich bedroht war — mehrere Attentate wurden vorbereitet, einige ohne Erfolg durchgeführt —, wollte der General die Vollendung seines staatspolitischen Werkes schnell- fristig realisieren. Sämtliche Gegner des Regimes, die meinungsbildende Presse, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die ständischen Vertretungen, sogar die oberste Verfassungsbehörde kritisierten das

Verlangen de Gaulles, durch ein Referendum seinen Willen bestätigen zu lassen. Mit unduldsamer Härte begegnet de Gaulle im zweiten Band der Memoiren seinen damaligen Kritikern. Er vergißt wirklich niemanden, ob es sich um den Leitartikler des „Figaro“, den französischen Botschafter bei Hitler, Franęois Poncet, handelt oder den Direktor der angesehenen Abendzeitung „Le Monde“, die Journalisten des Fernsehens, sie alle werden nachträglich als „Feinde eines Genies“ verteufelt und gegeißelt. De Gaulle wird noch heftiger, sobald er den politischen Parteien von rechte oder links Unfähigkeit, Neid und nationalen Hader ankreidet. Der Präsident des Senates, der farbige Politiker Gaston Monnerville, wird genauso gepfählt wie Kriegspremierminister Paul Reynaud. Die verschiedenen Standesvertretungen und gewerkschaftlichen Organisationen finden in den Augen des Olympiers kaum Gnade. Der Monarch ist nur dem Volke gegenüber verantwortlich. Er lehnt jede Zwischenstufe ab, die zwischen ihm und dem Bürger Barrieren aufrichtet. Der General begründete 1962 das System der plebiszitären Demokratie, wie er sie in letzter Vollendung bis I960 in Frankreich handhabte, ein System, das den soziologischen Bedingungen der zukünfti gen Industriegesellschaften wenig entspricht.

Im ersten Band der Memoiren hat es General de Gaulle peinlichst vermieden, über seinen Nachfolger ein Urteil abzugeben. Dies wurde als eine bewußte Geste gewertet. Ein solches Vergessen schien logisch zu sein. Wollte de Gaulle nicht durch sein Schweigen den einstigen Dauphin desavouieren?

Diesmal kommen die Leser auf ihre Rechnung. Von einigen lobenden Worten über die ehemaligen Mitarbeiter abgesehen, ist Georges Pompidou jene Persönlichkeit, die der Memoirenschreiber in den Vordergrund seiner Betrachtungen rückt. Der „Neuling des Forums“ sei mit großer Kultur und Intelligenz ausgestattet, erkenne die praktischen Seiten der Probleme und suche vorsichtig jeweils einen Ausweg. Aber was wäre Georges Pompidou ohne die freundschaftliche und kräftige

Unterstützung des Staatschefs, der ihm, weit über die vernünftigen Grenzen hinausgehend, Vertrauen geschenkt hatte? „So wie ich bin und so wie er ist, übermittle ich Pompidou eine Funktion, damit er mir in einer bestimmten Phase beistehe.“

Das Urteil de Gaulles über Pompidou enthüllt sich aus diesen Sätzen. Es läßt den Schluß zu, daß der General Georges Pompidou als praktischen Politiker geschätzt habe, ihm jedoch jenes staatspolitische Genie absprach, jenes Charisma verneinte, mit dem er sich selbst ausgestattet wußte.

Die Lektüre dieser beiden unvollendeten Kapitel wirkt eher beklemmend. Wir übergehen einige sachliche Fehler, die verzerrend wirken. Im allgemeinen spürt man in diesen Zeilen die Traurigkeit eines Mannes, der Gottes Gnadentum beanspruchte und durch den Undank seiner Nation zur Demission gezwungen wurde. Allerdings wird dieses Werk die charakterliche Beurteilung General de Gaulles erleichtern. Es bietet dem Historiker die Möglichkeit, die Tugenden und Untugenden einer autoritären Herrschaft noch einmal zu analysieren.

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