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Lebensbeichten politischer Einsiedler

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Die frühen sechziger Jahre: die Welt dm Aufbruch vom Kalten Krieg zur Umkehrung der Fronten. Die frühen sechziger Jahre: das war die Zeit, da Ost und West im atomaren Patt nach neuen tastenden Versuchen einer Annäherung strebten, da John Kennedy ganz neue Formen des Politstils in die Welt der Patriarchen brachte, da die Chinesen Moskaus Führungsanspruch bestritten, da die Dritte Welt noch von dem Gestirn eines Sukamo, Nasser und Nehru überstrahlt war, da die Kubakrise und die Nachwehen des Algerienkrieges die Schlagzeilen bildeten

— kurz, es war die Zeit, da in Europa Charles de Gaulle zum Bürgerpräsidenten aufrückte, mit festen Mehrheiten konservativer Franzosen hinter sich, mit seinem Traum von „Frankreich, das aus der Tiefe der Zeiten kommt“, eine Aussöhnung mit einem Alten jenseits des Rheins, mit Adenauer und seinen immer reicher und fetter werdenden Bundesdeutschen suchend; und im Kreml ein ukrainischer Bauer, unbestritten, wie es schien, mit den Millionen zwischen Kiew und Wladiwostok ein Poker spielend, Versprechen ausstreuend auf ein goldenes Reich des Kommunismus, in dem die USA schon 1970 im Lebensstandard überholt werden würden, seine Sputniks, Wostoks und Luniks Sternen gleich in den politischen Horizont schießend… Ja, die frühen sechziger Jahre: da es noch kennen Vietnamkrieg gab, in Nahost noch U Thants Beobachtersoldaten Wache hielten, in Prag noch Stalinisten saßen: eine Zeit, die wir schon so lange verflossen wähnen, daß wir sie kaum noch als die unsere sehen — in der aber die Konflikte unserer Tage begründet, verschärft, Lösungen verabsäumt, Eskalationen nicht verhindert wurden.

Zwei große Zeugen dieser Zeit legen ihre Lebensbeichte in die Buchläden: Charles de Gaulle und Nikita S. Chruschtschow.

Schon seit einiger Zeit im Bücherangebot als politische Bestseller, sind sie nicht so sehr isolierte Dokumente menschlicher, individualistischer Spekulation über das eigene Selbst, die Welt, die Politik: sie sind

— gemeinsam betrachtet, hintereinander gelesen — tatsächlich so etwas wie ein Spiegel der vorletzten Stufe, von der aus wir alle den Treppenschritt in unsere Zeit gemacht haben. Chruschtschows Memoiren: das ist ein Wort zuviel und eines zuwenig. Sind sie tatsächlich von dem „Einsiedler am Stadtrand von Moskau“, wie das Buch in der Ichform beginnt

— oder eine geschickte Montage aus Reden, Artikeln des einstigen Generalsekretärs der KPdSU, vielleicht auch tatsächlich ein wenig Autobiographisches des Staatspensionisten, Tonbandteile von Memoiren, auf undurchsichtigen Wegen in den Westen gelangt?

Wie dem auch sei: hier entsteht biographisch das Bild dieses Ukrainers vor uns, die eigenen Lebenslügen produzierend, die er sich vorgab, die Demütigungen der Stalin- Zeit, die Selbstrehabilitierung des Aufsteigers Chruschtschow, der Machtkampf nach dem Tod des neuen Zaren, die Berija-Krise, dann die Verurteilung Stalins am XX. Parteitag: ein faszinierender, ganz und gar „unstaatsmännisch“ abgefaßter Bericht mit nicht immer gewählten Ausdrücken, voll Saft und Kraft, ungenau (ob aus Erinnerung, aus Mangel an Wissen des westlichen oder östlichen Autors?), manchmal weitschweifig, naiv auch, den Westen im Visier eines Ungläubig-Gläubigen — mehr eine Beichte, denn ein Bericht. Vor allem aber: Chruschtschows Zeit als erster Mann seines Imperiums; das kommunistische Vorfeld in Europa, die „Ordnung in Ungarn“, immer wieder: die Angst vor der Bundesrepublik, vor Adenauer. Die Gipfeltreffen: in Genf, in Paris, der legendäre Schuh in New York. Vor allem aber das Engagement im Assuan, die dämmernde Konfliktanbahnung in Nahost, die Mauer in Berlin; die Chinesen, immer wieder der störrische Mao, seine Kommunen als falsche Interpretierung des Kommunismus, und dann der Ur- konflikt in Indochina, in Laos, in

Vietnam. Chruschtschows großes Spiel mit dem Amerikaner Kennedy in Wien, dann sein Raketenabenteuer vor der Haustür der USA in Kuba. All das, geschrieben in der Stilform der Rechtfertigung vor der Welt (mehr der westlichen, als der seiner eigenen Landsleute), vor der heutigen Führung im Kreml — vielleicht auch vor sich selbst?

Einer seiner Gegenspieler, der Mann, der Frankreich ,4n seine Rettung führen konnte“, braucht keine Rechtfertigung vor der Welt und sich selbst. Er, der als Einsiedler in Co- lombey an seinen „Memoiren der

Hoffnung“ schrieb, empfand sich als Mann der Vorsehung, von den Merowingern herauf die legitime Inkarnation einer Nation; und was er schrieb, ist ganz Charles de Gaulle, der Panzerofflzier von Laon, der Widerstandsgeneral, der Staatspräsident, der Schöpfer einer Partei, die an ihm und durch ihn Lebenssinn erhielt, der Weltbürger trotz aller Bezogenheit auf das Natrionale. Die Memoiren des Generals sind nicht Weihrauch für die eigene Größe — sie sind ganz einfach sein Credo, das Wort an eine Welt — von der er überzeugt war, daß sie seiner be-

durfte: „Angesichts der Opfer entschließe ich mich zum Handeln. Werde ich die historische Gelegenheit ergreifen, um dem Staat Institutionen zu geben, die ihm die Stabilität und Kontinuität wiedergeben, deren er seit 169 Jahren beraubt ist? Werde ich das Rechte tun, das Problem der Entkolonialisierung zu lösen, im Zeitalter der Wissenschaft und Technik die wirtschaftliche und soziale Umgestaltung verwirklichen, die Unabhängigkeit unserer Politik und unserer Verteidigung wieder- zuerringen, aus Frankreich den Vorkämpfer eines in seiner Gesamtheit vereinten Europas zu machen, ihm auf dem Erdengrund und insbesondere in der Dritten Welt das Gehör und die Ausstrahlung neu zu verschaffen, die es jahrhundertelang besaß?“

De Gaulles Fragen stellt er am Eintritt in die Arena 1958 sich selbst. Einige Jahre später muß die Welt erkennen, daß der General sich selbst emstnahm und an die Wiedergeburt seines Landes an der Spitze seines Kontinents glaubte. De Gaulle: ein Don Quichotte des 20. Jahrhunderts — oder der weise Einsiedler in der Klarheit der Luft der Boisserie?

Wechselnd zwischen der Ichform und dem Erzähler, der über de Gaulle spricht, macht er das, was Memoiren vorher und nachher im Politischen nicht fertigbrachten: Biographisches mit Philosophischem, Politisches mit Metaphysischem zu vereinen. Freilich, so sagen de Gaulles Kritiker, das typische Produkt aufgeblasenen Pathos, beschönigend und egoistisch. Ein Buch, das uns das Phänomen überläßt; den Wohlwollenden: das Phänomen eines Menschen, der nicht der Triebhaftigkeit der Politik verfallen, sondern den Sinn und das Ziel hervorkehrend, Mühen und Lasten nicht scheuend, einer Idee diente.

Der Bauer als Parteifunktionär: der Offizier als Staatsmann. Zwei Welten. Zwei Bücher.

MEMOIREN DER HOFFNUNG. Von Charles de Gaulle. Molden- Verlag. 480 Seiten, DM 26.—. CHRUSCHTSCHOW ERINNERT SICH. Eingeleitet und kommentiert von Edward Cr ankshaw, Rowohlt. 598 Seiten, DM 30.—.

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