Die Versuchsstation Europas

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Nicht nur die NATO (Gründungstag 4. April 1949), auch der in Straßburg beheimatete Europarat feiert heuer den "Fünfziger". Geburtstag des Rates ist der 5. Mai.

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Nicht nur die NATO (Gründungstag 4. April 1949), auch der in Straßburg beheimatete Europarat feiert heuer den "Fünfziger". Geburtstag des Rates ist der 5. Mai.

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Die Katastrophen des Ersten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten der Idee eines gemeinsamen und vereinten Europas starken Auftrieb gegeben. Der visionäre Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi war ein Motor dieser Idee. Mit der damals bedeutenden und in weiten Kreisen anerkannten Paneuropa-Bewegung schuf er eine Plattform, von der aus programmatische Konzepte zu politischer Realität werden sollten. Nationalismen und der Aufstieg von Diktaturen zerstörten die Ansätze für Europa.

"Der erste Schritt zur Neuschaffung der europäischen Völkerfamilie muß ein Zusammengehen von Frankreich und Deutschland sein": Dieser zentrale Satz in der historischen Europa-Rede, die Winston S. Churchill am 19. September 1946 an der Universität von Zürich hielt, sollte zum entscheidenden Impuls für eine Neubelebung der europäischen Idee werden. "Wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa - oder wie sie sonst heißen oder welche Gestalt sie annehmen mögen - bilden wollen, dann müssen wir jetzt beginnen." Churchill notierte später zu diesen Vorschlägen, besonders hinsichtlich des Brückenschlages Frankreich - Deutschland: "Es ist jedoch einer der Vorteile der Opposition, daß man seiner Einbildungskraft freieren Lauf lassen kann als diejenigen, denen das Geschick bestimmte, Pläne in die Praxis umzusetzen." Die Einbildungskraft des abgewählten britischen Premiers hatte aber doch deutliche Grenzen, die durch das britische Inseldenken gegeben waren: Im künftigen Europarat sollte das kontinentale Europa erfaßt werden, nicht aber das Vereinigte Königreich, das sich den USA wesentlich näher sah.

Kompromiß Auf einem europäischen Kongreß in Den Haag (1948), an dem auch Großbritannien teilnahm, wurde ein Kompromiß zwischen der Forderung nach einer europäischen Föderation und dem Konzept einer einfachen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit gefunden und auf dieser Basis die Gründung eines Europarates gefordert. Noch einmal der nun enttäuschte Churchill: "Derart gewichtige Dinge kann man den Menschen nicht von oben her aufzwingen, wie hervorragend die Planung auch sein mag. Sie müssen vielmehr nach und nach aus echten, von vielen geteilten Überzeugungen wachsen."

Symbolik Auf der Londoner Regierungskonferenz vom 5. Mai 1949 wurden die Statuten des Europarates unterzeichnet und veröffentlicht. Zu den zehn Gründerstaaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Schweden kamen noch 1949 Griechenland und die Türkei. Die Zahl Zwölf (ursprüngliche Anzahl der Mitgliedstaaten, Zahl der Vollkommenheit) bestimmt die offizielle Europaflagge: einen Kreis von zwölf Sternen auf blauem Hintergrund, seit 1955 Flagge des Europarates, seit 1986 auch offizielle Flagge der Europäischen Gemeinschaften, die damals ebenfalls zwölf Mitgliedsstaaten hatten. Als Europahymne wurde 1972 die von Herbert von Karajan stammende Bearbeitung des "Freude schöner Götterfunken"-Themas aus Beethovens 9. Symphonie gewählt; seit 1986 ist sie das einheitliche musikalische Symbol aller europäischen Institutionen.

Österreich ist seit 1956 Mitglied des Europarates; die Schweiz, die weder der UNO noch der EU angehört, ist 1963 dem Europarat beigetreten; 1990 wurde Ungarn als erstes Land des ehemaligen Ostblocks in den Europarat aufgenommen. Mit dem Beitritt Georgiens (27. April 1999) zählt der Europarat nunmehr 41 Mitgliedsländer mit einer Gesamtbevölkerung von mehr als 800 Millionen Menschen.

Die europäische Einigungsbewegung, deren Kraft für alle, die den Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebten, überzeugend und Grund für große Hoffnungen war, kann nicht isoliert von jenen politischen Maßnahmen gesehen werden, die zu den Instrumenten der wirtschaftlichen und der militärischen Sicherheit in Europa führten, Marshallplan und NATO. Für George C. Marshall war die spürbare politische Kraft der - westlich ausgerichteten - Europa-Idee ein wesentlicher Grund zur Realisierung des Planes einer Wirtschaftshilfe für Europa. 1948 wurde die OEEC (Organization for European Economic Cooperation) zur Durchführung des Marshallplans gegründet. Diese Organisation wurde 1960 zur stärkeren Einbindung der USA, Japans und Kanadas zur OECD (Organization for Economic Cooperation and Development) umgestaltet. Österreich hat durch den raschen Beitritt zur OEEC eine wichtige Voraussetzung für seinen wirtschaftlichen Wiederaufbau geleistet und zugleich ein Bekenntnis zu Europa abgelegt.

Ökonomie & Sicherheit Die von den Westmächten geschlossenen militärischen Beistandspakte und die 1949 erfolgte Gründung der NATO (North Atlantic Treaty Organization) müssen als enge Verzahnung mit den wirtschaftlichen und politischen Aspekten der europäischen Einigung gesehen werden. Der Beginn der deutsch-französischen Verständigung als Kern einer weiteren europäischen Einigung kann kaum aus einer plötzlich ausbrechenden Euphorie, eher aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten (EGKS, EURATOM), am überzeugendsten durch das garantierte militärische Sicherheitssystem erklärt werden.

Robert Schuman hat einmal den Europarat als "Laboratorium für die europäische Einigung" bezeichnet: Versuchsstation, in dem nicht Wirtschaftsmacht und Sicherheitssysteme eine Rolle spielen, wo aber bewußt sein muß, daß die Teilnahme an diesen die eigentliche Intention schon beim Eintritt in das Laboratorium ist. Die Expansion der Europa-Idee bis an die geographisch definierten Grenzen des Kontinents (Armenien und Aserbaidschan finden sich unter den nächsten Beitrittsbewerbern) ist primär ein Vorstoß des Ideellen, stärkt übernationales Denken, schafft durch Begegnungsräume Grundformen europäischer Gemeinschaft.

Wechselwirkungen Entscheidungsorgan ist das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung fungiert als beratendes Gremium, und der Kongreß der Gemeinden und Regionen repräsentiert die Basisdemokratie. Diese Organe werden von den nationalen Stellen beschickt; im Unterschied zum EU-Parlament, dessen Abgeordnete von der Wahlbevölkerung der Mitgliedsstaaten gewählt werden, sind die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Delegierte der nationalen Volksvertretungen. Zahlreiche europäische Vereinigungen und Gruppierungen, die unabhängig von den nationalen Regierungen tätig sind (NGOs), sind dem Europarat assoziiert.

Daß bei an sich schwachen politischen Kompetenzen der Institution doch so manches bewegt werden kann, zeigen die Parlamentarier. Ihnen kommt ihre Doppelfunktion zustatten: Aus den nationalen Parlamenten liefern sie Themen in die Straßburger Beratungen, aus dem dortigen Erfahrungsaustausch kann auf die Situation zu Hause eingewirkt werden.

Die "Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (1950) ist wohl der wichtigste und auch am stärksten bewußte Baustein im Fundament des Europarates. Es ist erschreckend, daß erst in dieser Zeit der Zerstörung des Menschenbildes jene Kräfte, die das demokratische Gewissen Europas formen wollen, mehr Chancen finden und stärkere Wirkung erzielen als in anderen Zeiten. Europas Salz drohte schal zu werden. Die im Europarat versammelten Länder können seine Kraft bewahren.

Der Autor, Sektionschef i. R. des Unterrichtsministeriums, ist Ehrenvorsitzender des Europäischen Erzieherbundes - Sektion Österreich.

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