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Europas Gnadenfrist

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Es steht schlimm um die Sache Europas.Das ist fast schon der Stehsatz in allen Nachrichten aus den Zentren der europäischen Integration in letzter Zeit. Auch bei den besten und treuesten Europäern in Brüssel und Straßburg, in den Regierungen und Parlamenten, auf den Lehrkanzeln und in den Redaktionsstuben herrschen Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Geht es um mehr als wieder einmal um eine der zahlreichen, letzten Endes gesunden Krisen, die den Weg der europäischen Einigung seit den frühen fünfziger Jahren mit echter Regelmäßigkeit begleiten? Schlug diesmal für die Europäer die Stunde der Wahrheit? Forderte Europas Gnadenfrist der siebziger Jahre schon jetzt, 1973/74, unerbittlich eine Zwischenbilanz, mehr noch: den Offenbarungseid? So kann und konnte es nicht weitergehen. Wo aber bieten sich neue und klare Perspektiven an, wenn wir — hoffentlich bald — aus dem Tunnel wieder ins Freie gelangen?

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Es steht schlimm um die Sache Europas.Das ist fast schon der Stehsatz in allen Nachrichten aus den Zentren der europäischen Integration in letzter Zeit. Auch bei den besten und treuesten Europäern in Brüssel und Straßburg, in den Regierungen und Parlamenten, auf den Lehrkanzeln und in den Redaktionsstuben herrschen Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Geht es um mehr als wieder einmal um eine der zahlreichen, letzten Endes gesunden Krisen, die den Weg der europäischen Einigung seit den frühen fünfziger Jahren mit echter Regelmäßigkeit begleiten? Schlug diesmal für die Europäer die Stunde der Wahrheit? Forderte Europas Gnadenfrist der siebziger Jahre schon jetzt, 1973/74, unerbittlich eine Zwischenbilanz, mehr noch: den Offenbarungseid? So kann und konnte es nicht weitergehen. Wo aber bieten sich neue und klare Perspektiven an, wenn wir — hoffentlich bald — aus dem Tunnel wieder ins Freie gelangen?

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Wer Zeit und Leidenschaft genug besitzt, viel über das seit einem Viertel Jahrhundert in Gang befindliche europäische Einigungswerk nach- und vorauszudenken, nachzulesen und manchmal auch an den Brennpunkten des Integrationsprozesses „nachzuschauen“, der muß von dem Werk zweier junger deutscher Wissenschafter sofort gepackt und fortwirkend tief beeindruckt sein*).

Unter den Projektanten und Konstrukteuren des Europa von morgen sind seit langem zwei Gruppen, zwei Richtungen zu erkennen. Auf der einen Seite die Staatspolitiker und Juristen — natürlich auch juristisch begabte Nicht-Graduierte, Logiker und Systematiker, die in herkömmlichen Rechtsbegriffen und Institutionen denken, die ein rationales Kalkül zum Integrationsprozeß beitragen. Auf der anderen Seite die Gesellschaftspolitiker, Soziologen, Phantasiebegabten, Emotionsgeladenen, bei denen der Wille, die Liebe zum Experiment, zum Pragmatismus und zur Politik der kleinen Schritte vorherrschen. Man könnte die eine Gruppe auch die Baumeister, die andere die Architekten des künftigen Europa nennen. Die einen nämlich sehen als Ziel der Integration einen „auf den Staat hin tendierenden Prozeß“ (Walter Hallstein im Vorwort zum besprochenen Buch.)

Die anderen begnügen sich mit der gemeinschaftlichen Ausübung von Souveränität durch freie Staaten. „Das Regelsystem des geeinigten Europa bleibt eine Konstruktion eigener Art, nicht Einzelstaat und nicht internationale Organisation, sondern eben europäische Union.“ (Rolf Dahrendorf am Schluß seines ebenfalls 1973 erschienenen „Plädoyers für die europäische Union“.)

Schließlich könnte man — grob vereinfachend — als Zielvorstellung der einen Gruppe einen handfesten traditionellen Bundesstaat, bei der anderen eine viel weniger klar umrissene, dafür aber neuartige „Union“ feststellen.

Die beiden Verfasser gehören der jüngeren Generation an. Weidenfeld war Sekretär von Walter Hallstein, Jansen ist der Sohn des allzu früh verstorbenen Botschafters Jansen, der bei der Abfassung der Römer EWG-Verträge entscheidend mitgewirkt hat. Bei allem Sachverstand und aller Vorliebe für klares juridisches und rationales Denken ist doch in diesem Werk ein jugendlicher, begeisterter und begeisterungsfähiger Zug unverkennbar. Man spürt viel von der in jungen und junggebliebenen Europäern vorhandenen Ungeduld, die hier freilich durch einen verbindlichen diplomatischen Sprachstil gezügelt erscheint, eine „geduldige“ Ungeduld sozusagen. Wo aber ein scharfer kritischer Zwischenruf notwendig erscheint, scheuen die Verfasser auch vor einem solchen nicht zurück.

Mit Recht wenden sie sich zum Beispiel gegen den halben ersten Schritt in der Richtung auf die eine Stimme, mit der die Gemeinschaft nach außen sprechen müßte, wie er bei der ersten Außenministerkonferenz der EG im November 1972 in München beschlossen wurde. Dort einigte man sich zwar auf ein Verbund-Fernmeldesystem zwischen den Außenministerien (insbesondere gedacht für Weisungen an die Botschafter bei Drittstaaten und internationalen Organisationen); aber „kein Verantwortlicher wird sich damit zufriedengeben können. Unter den gegebenen europäischen und weltpolitischen Umständen benötigen wir schon bald eine gemeinschaftliche Willensbildung und Handlungseinheit“ (Seite 49).

Das ist es auch, was die europäische Jugend — wenn überhaupt noch — an Europa interessiert, was sie von Europa erwartet. Nicht nur der Umstand, daß Europa mit einer Stimme spricht (was in Helsinki, Genf und Wien einigermaßen gelang), sondern, daß es mit entscheidungsbereitem Willen handelt — was in der Ölkrise vollständig mißlang.

Und noch etwas erwartet diese Jugend: „Der Integrationsprozeß wird wieder an Attraktivität gewinnen, wenn er aus seiner Phase der Technizität herausgeführt wird, indem die Verbindung von Integration und reformatorischer Gesellschaftspolitik in den Blickpunkt des Interesses rückt“ (Seite 62).

Von den kleinen und neutralen Staaten her gesehen, ist es den Verfassern hoch anzurechnen, daß sie keine sich bietende Gelegenheit übersehen, diese Gruppe an der Integration unter Aufrechterhaltung ihres neutralen Status teilnehmen zu lassen. Eine Fülle solcher Möglichkeiten wird aufgezeigt. Nicht nur in der Handelspolitik, in der durch die Freihandelszone für die Neutralen der Weg nach Europa geöffnet wurde, auch in der Kartell- und Wettbewerbspolitik, im Gesellschaftsrecht, in den Bereichen des Patent- und Warenzeichenrechts, in der Harmonisierung des Steuerrechts, in der Energie-, in der Agrar- und in der Verkehrspolitik; ferner in der technologischen Zusammenarbeit, in der Kulturpolitik (Europäisches Jugendwerk), in der Sozialpolitik (Fremdarbeiterrecht) könnten die Nichtmitgliedstaaten entweder durch Harmonisierung parallel, oder im Nachvollzug integriert werden.

Weitaus den größten Teil des Werkes nimmt die fast ein halbes tausend Seiten umfassende Dokumentation mit insgesamt 96 Dokumenten ein. Damit ist mit dem europäischen Bekenntnisbuch der beiden sympathischen Verfasser ein sachverständiges Handbuch vorgelegt, das einen weiteren Einblick in die zentralen Aspekte der europäischen Integration gibt. In der Dokumentation findet sich so ziemlich alles, was an denkwürdigen Dokumenten seit der Mitte unseres Jahrhunderts erarbeitet und beschlossen wurde. Von der Satzung des Europarates über die Konvention zum Schutz der Menschenrechte, die Montanunion- und EWG-Verträge, den deutsch-französischen Vertrag bis zu allen wichtigen Berichten, Reden und Erklärungen der europäischen Staatsmänner, Regierungen und Parlamente bis zu den Pressekonferenzen Präsident de Gaulles und zu Entschließungen, wie etwa des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa.

Ich halte dieses Werk für die bisher beste, sachlichste und präziseste Darstellung der ebenso langen wie bewegten, an Triumphen, Hemmnissen und Rückschlägen wahrlich nicht armen Geschichte der europäischen Einigung. Die Arbeit bleibt aber beim Aufzählen und Beurteilen des Gewesenen nicht stehen, so~ dankenswert die vielseitige, wissenschaftlich fundierte und von persönlichem Engagement getragene Darstellung des bisherigen Integrationsprozesses ist. Das Zukunftsbild, die geforderte Komplementarität des Ausbaues der -Institutionen und der europäischen Gesellschaftspolitik ist ebenso faszinierend. Vor allem aber befriedigt der ebenso klare wie apodiktische Satz: „Der bisherige Integrationsprozeß war beabsichtigt und nicht zufällig. Das Ziel ist die volle politische Einheit Europas.“

• Jansen / Weidenfeld: Europa, Bilanz und Perspektive. Verlag Hase & Koehler, Mainz, 1973.

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