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Blick nach Straßburg

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Der Straßburger Europarat schien in den letzten Jahren in einen L>orn-röschenschlaf gesunken zu sein. Das Schloß Dornröschens, das Europahaus, war einem politisierenden Konventikel ähnlicher als dem echten politischen Forum, dem es nach den Intentionen seiner Gründer hätte Behausung sein sollen. Ganz plötzlich jedoch war aer Märchenprinz da, der die schlafende Schönheit aus ihrem tiefen Schlummer wecken sollte: Die Bedeutung der aktuellen Probleme, die in der eben tagenden Beratenden Versammlung behandelt werden, ist so groß, daß nach längerer Zeit der Europarat wieder die Möglichkeit hat, echte Politik zu machen

Wichtigster Punkt der Tagesordnung ist das Verhältnis des Europarates zu der durch das Scheitern der Brüsseler Gespräche vor einiger Zeit hervorgerufenen EWG-Krise. Was kann der Europarat seinerseits tun. die europäische Politik wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen? Generalsekretär Lodovico Benvenuti legte der Versammlung einen Bericht vor, der sich bezeichnenderweise ausschließlich mit der durch die Brüsseler Krise geschaffene Lage beschäftigt. Um es kurz zu sagen — Benvenuti sieht die Aufgabe des Europarates in der Lösung der Krise mit feineren psychologischen Mitteln.

Natürlich kann es nicht Aufgabe des Europarates sein, die beiden einander grollenden Mächte Großbritannien und Frankreich zu einem „Sind-wir-wieder-gut“-Standpunkt zu bringen. Sehr wohl dagegen kann und muß es seine größere Aufgabe sein, die streitenden, schmollenden, grollenden Partner daran zu erinnern, daß ein gespaltenes Europa wohl kaum das Ziel von Einigungsbestrebungen sein dürfte. Und so gesehen, wäre die diesjährige Sitzung der Beratenden Versammlung wohl zu einem echten Mei-

lenstein • europäischer Integration geworden.

Unterstrichen wird die Bedeutung der Straßburger Gespräche aber auch durch die Sitzung des Ministerausschusses der Europaratstaaten, der seit langem wieder einmal zusammen mit der Beratenden Versammlung seine geheimen Besprechungen abhält.

Das Thema der Beratungen wurde nicht bekanntgegeben. Zweifellos handelt es sich aber auch hier um das weitere Vorgehen nach der Brüsseler Krise, um, so mehr als Luxemburgs Außenminister Eugene Schaus nicht nur Vorsitzender dieses Gremiums, sondern auch zugleich Vorsitzender des am 8. und 9. Mai in Brüssel tagenden Ministerrates der EWG ist. Ein Vergleich der Ergebnisse beider Konferenzen wird sicherlich nicht ohne Interesse sein.

Echten politischen Zündstoff, wenn auch keine Überraschung, brachte die Wahl des neuen Präsidenten des Europarates. Als Nachfolger des scheidenden Präsidenten, des dänischen Liberalen Per Federspiel, wurde nämlich der frühere französische Ministerpräsident und gegenwärtige Bürgermeister von Straßburg, Pierre Pflimlin, gewählt. Die Wahl Pflimlins, eines Gegners der Europapolitik de Gaulles, wird von „gewöhnlich wohlinformierten Kreisen“ als Demonstration des Europaparlaments gegenüber den europäischen Vormachtbestrebungen de Gaulles bewertet. Freilich bleibt die Wahl Pflimlins zum Präsidenten so lange eine bloße Geste, bis der Europarat selbst mit brauchbaren Vorschlägen oder, noch besser, mit einem brauchbaren Konzept für ein neues Europa, das ja trotz allem ein „Europa der Vaterländer“ sein kann, aufwartet. Sollten sich de Gaulles Großmacht-träume stärker erweisen als jedes vom Europarat entworfene Konzept, so würde das Straßburger Parlament end-

gültig in den Dornröschenschlaf eines oppositionellen Gremiums sinken; wer weiß, ob der Märchenprinz dann überhaupt je käme?

Noch wichtiger als alle Auseinandersetzungen über de Gaulies Europapolitik ist für Österreich der Beitritt der Schweiz zum Europarat. Aus Gründen der Neutralität hatte die'Berner Regierung jahrelang gezögert, die Fahne mit dem Schweizerkreuz vor dem Europahaus in Straßburg hissen zu lassen, bis schließlich vergangenen Montag der Leiter des eidgenössischen politischen Departements, Bundesrat Friedrich Wahlen, in Anwesenheit der Minister der sechzehn übrigen Mitgliedstaaten die Beitrittsurkunde in einer feierlichen Zeremonie vorlegte.

Die drei Neutralen stellen im Europarat einen gewissen Machtfaktor dar, durch den sich auch die Position Österreichs wesentlich verbessert hat. Der Beitritt der Schweiz zeigt aber auch die geänderte Interpretation des Neutralitätsgedankens. Zweifellos wird es dem „neutralen Block“ unschwer möglich sein, auch zu einer Definition der Neutralität innerhalb einer europäischen Gemeinschaft zu gelangen. Die Schweiz, die im Zuge einer Neuinterpretation ihrer Neutralität im Hinblick auf Europa sich endlich entschlossen hat, dein Straßburger Parlament beizutreten, könnte da, Erfahrungen aus einer langen Zeit des Friedens und der militärischen Bündnisfreiheit nützend, sehr wohl Lehrmeisterin Österreichs sein, dessen Neutralitätsdefinition noch — leider — nicht auf* sehr sicheren Beinen steht. So betonte auch Außenminister Kreisky in seiner Rede, die er vor der Beratenden Versammlung des Europarates hielt, die Übereinstimmung der Neutralen, besonders aber Österreichs, mit den von Bundesrat Wahlen angedeuteten Grundsätzen hinsichtlich der Neutralität, der Integration und eines Arrangements mit der EWG.

Die allgemeine optimistische Stimmung, die für die gegenwärtigen Straßburger Verhandlungen kennzeichnend ist, wird hoffentlich auch für Österreich gelten. Der Beitritt der Schweiz zum Europarat zeigt, daß unsere Interpretation der Neutralität richtig war: Unsere Position ist zweifellos gestärkt, unsere Zugehörigkeit zu einem freien, demokratischen Europa neuerlich bekräftigt.

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