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Kein „Souveränitätsselbstmord“ mehr
In seiner Eröffnungsrede anläßlich der Tagung der Sozialistischen Internationale in Wien hat Bruno Pittermann die Direktwahl der Abgeordneten in den Europarat durch das Volk wünschenswert bezeichnet. Gleichzeitig verwies er darauf, daß man der Straßburger Versammlung auch Gesetzgebungsvollmachten überantworten sollte.
Mit dieser Äußerung Pittermanns ist eine grundlegende Änderung in der sozialistischen Einstellung bezüglich des Europarates und der Delegation der Abgeordneten in denselben eingetreten. Bisher wurden alle Bemühungen, Straßburg durch die Volkswahl seiner Abgeordneten aufzuwerten, mit dem wohlwollenden Hinweis auf die lange Bank geschoben, die Idee selbst wäre ja sehr richtig, die Geschäftsordnung des Europarates verlange aber zwingend die Delegierung von Angehörigen nationaler Parlamente. Sie erlaube keine „hauptberuflichen“, durch das Volk direkt nach Straßburg gewählten Europaabgeordneten. Die Geschäftsordnung wurde zu einem Götzen, dem sich alle zu beugen hatten. Und schon gar nicht wollte man Straßbrug echte parlamentarische Befugnisse einräumen. Das wäre ja so etwas wie Souveränitätsselbstmord gewesen.
Wenn nun Dr. Pittermanns Gedanken seitens der Sozialistischen Internationale initiativ aufgegriffen werden sollten, würden viele zu ihrem größten Erstaunen sehen, daß die Internationale und einer, der ihr zwar sicherlich nicht angehört, aber zu den Europakämpfern der ersten Reihe zählt —, Dr. Otto Habsburg — hier nicht ein ähnliches, sondern das gleiche Ziel anstreben. Es besteht so gut wie kein Unterschied zwischen dem, was Pittermann und Habsburg in Sachen Europa sagen und fordern.
Zeitlich sieht es allerdings anders aus: Schon seit der Gründung des Europarates im Jänner 1949 — im April des Jahres 1956 ist ihm Österreich beigetreten — hat es Verfechter des Gedankens einer größtmöglichen Stärkung dieser Institution gegeben. Sie, die „Föderalisten“, konnten sich aber bis zum heutigen Tag nicht durchsetzen. Seit vielen Jahren hat Dr. Otto Habsburg die Forderung nach der Direktwahl der Straßburger Abgeordneten und nach einem mit gesetzgebender Autorität ausgestatteten Europarat erhoben. Im vorigen Jahr und heuer hat dann in Österreich die „Aktion Österreich-Europa“ in Verfolgung dieser Ziele an die Bundesregierung in Form eines Volksbriefes das Ansinnen gestellt, bei den zuständigen Stellen in Straßburg wirksam zu werden und auch innerösterreichisch die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. Waren es im Jahre 1971 innerhalb von vier Wochen mehr als 54.000 Österreicher des gesamten Bundesgebietes, die diesen Brief — seiner Form nach ein neues demokratisches Willensinstrument — unterfertigten, so waren es heuer innerhalb weniger Wochen, im April und Mai 1972, allein knapp 25.000 Tiroler, die sich mit ihrer Unterschrift für die Volkswahl einsetzten.
Aber auch außerhalb Österreichs wurde die „Direktwahl“ virulent. Der Südtiroler Landtag hat am
12. Mai 1972 die gleiche Forderung mit nur einer einzigen Stimmenthaltung, nämlich der des Abgeordneten der KPI, der Regierung in Rom übermittelt, damit diese die notwendigen Schritte einleiten möge. Die eben ins Amt gekommene Regierung Italiens wird sich in Hinblick auf die geringe Mehrheit, die sie gegenüber der SVP konziliant erscheinen lassen muß, mit diesem Anliegen auseinanderzusetzen haben. — Aus Belgien ist bekannt, daß der amtierende Ministerpräsident Gaston Eyskens ein offen erklärter Anhänger der Volkswahl der Europaratsabgeordneten ist. In der Bundesrepublik, in Holland und anderen Staaten, die Mitglieder des Europarates sind, wird ebenfalls der Ruf nach der Direktwahl immer stärker.
Die österreichischen Sozialisten haben mit ihrer neuen Haltung in der Europaratsfrage einen Beweis des Realismus geliefert. Mit dem richtigen Gespür für die Entwicklung der Weltpolitik, die ein Zusammengehen der europäischen Staaten verlangt, ausgestattet und mit offenem Sinn für den von überparteilicher und sicherlich nicht im Verdacht betreffend irgendwelcher politischer Geschäftemacherei stehender Seite durchgeführten Meinungstests, wie er sich durch die Volksbriefaktion erwiesen hat, haben sie eine zukunftsträchtige Idee zu nutzen gewußt. Die SPÖ schwimmt auf der immer höher werdenden Europawelle obenauf, wobei ihr der Europäer Otto Habsburg als keine wie immer geartete Belastung erscheint. Eine Entwicklung, die viele zum Nachdenken anreizen sollte. Beispielsweise jene, die durch einen Initiativantrag im Parlament die Direktwahl der Europaratsabgeordneten einer raschen Erledigung zuführen und damit den Anschluß an die Ereignisse finden könnten...
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