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Der Weg zurUck

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SIE ZEIGTE DIE STRASSE ZURÜCK, auf der wir gekommen waren. — „Dort liegen vierzehn Monate Pause.“ — Und sie wies in die Richtung, in der sich die Asphaltstraße im schmutzigen Grau zwischen Winterhimmel und flacher Erde verlor, weit hinter dem Schlag-taum und dem Fahnenmast mit der grünweiß-roten Fahne. „Und dort beginnt wieder das Leben.“ — Wie sie den Paß aus der Tasche zieht, auf der „American Refugees Aid“ steht, fällt ein buntes Halstuch zur Erde. Der Wind trägt das Tuch nach Oesterreich zurück. Sie versucht nicht, es zu erreichen.

ES IST EINE SEHR GEHEIMNISVOLLE BEWEGUNG - der Treck zurück nach Ungarn. Beschämung und Erleichterung begleiten ihn bis zum Schlagbaum. — Beschämung: Der Westen muß sie sehr enttäuscht haben, daß sie in ihren kommunistisches Osten zurückfliehen. — Erleichterung: Es ist die Spreu, die zurückgeht. Gut, daß wir sie los sind. Ist es doch unser „Goldener Westen“, den sie verlassen, nachdem sie ihn vierzehn Monate vorher im Feuer der zusammenbrechenden Revolution gesucht hatten. Deshalb geht die Reise zurück im stillen vor sich. Aber —

Das Zimmer 3 5 im verwahrlosten Palais Trautson, das heute Collegium Hungaricum heißt und dem ungarischen Staat gehört, ist an jedem Tag gesteckt voll von Menschen. — Sie kommen nicht nur aus den ungarischen Lagern in Oesterreich, sie kommen aus dem sonnigen Kalifornien, aus dem umkämpften Algerien, aus den Sümpfen in San Domingo, und einen traf ich, der aus Hollywood zurückkehrte. Jeder bringt etwas mit aus dem Land, in das er nach der Flucht kam und aus dem er nun zurückkehrt. — Eine Bewegung, ein paar Worte, die Kinder Spielzeug, die Frauen Nylonstrümpfe. — Aber wie tote Vögel hängen die Andenken und die Erinnerungen an ihnen herab, wenn sie vor dem Attache Hamori stehen, der hinter dem Schreibtisch sitzt und in dessen Hand ihr Schicksal in Gestalt einer Fahrkarte ist, die er geben oder verweigern kann, der Fahrkarte, zurück nach Ungarn, mit dem Zug, der jeden Tag um 5.30 Uhr den Wiener Ostbahnhof verläßt.

Als ich in einer der warmen Winternächte dieses Jahres um vier Uhr früh am verschlossenen Holztor des Collegium Hungaricum vorbeikam, sah ich eine ganze Familie dort lagern und warten, bis das Tor aufgesperrt wird. Zwei Kinder, Mann und Frau, die aus Israel gekommen und. am Abend in Wien eingetroffen waren. Sie waren mit der großen Welle im Herbst 1956 aus Ungarn fortgeschwemmt worden bis nach Israel. Aber sie konnten keine Wurzel fassen, sondern blieben liegen, wie ein Stück Strandgut, das mit dem nächsten Wind wieder zurückgeweht wird. Der Wind zurück hatte sie am Abend mit dem Flugzeug der El-Al nach Wien gebracht, wie andere aus Kalifornien, aus Australien oder aus Casablanca. Nun warten sie die ganze Nacht, um unter den ersten zu sein, aber auch um dem Risiko einer Anmeldung im Hotel zu entgehen. — Denn die vom Ausland kommen und auf der Reise zurück nach Ungarn sind, haben in- Wien keine Aufenthaltsbewilligung. Wenn sie von der Polizei geschnappt werden, ist nicht der Geruch des rauchigen Wartesaals der letzte Eindruck aus dem Westen, den sie mitnehmen, sondern der beißende Geschmack von Lauge und Salmiak aus dem Schubarrest auf der Roßauer Lände, der ihnen sehr lange Zeit auf der Zunge bleibt.

180.000 flohen aus Ungarn im Sturm der Revolution und im Feuerschein der sowjetischen Panzerartillerie. Eine haushohe Welle von Menschen, die Oesterreich überschwemmten. Ein schweigsamer, aber ein stetiger Treck bewegt sich seit Monaten zurück, aus einer Freiheit, in die viele nicht gegangen, sondern geschwemmt worden waren, und die fremd und unbekannt geblieben ist. — Zurück in ein Ungarn, von dem jeder weiß, daß er es genau so finden wird, wie er es verließ.

IST ES EINE ARMUT DES WESTENS? Eine materielle, ideologische oder geistige Armut? Ich fand sie in der Begründung vieler, die zurückkehrten. So wie die — nunmehr enttäuschte — Hoffnung auf goldene Berge im Westen viele hierher gezogen hatte. Und trotzdem ist es auch das nicht. Denn die Mehrzahl von denen, mit denen ich sprach, wußte dem Westen nichts vorzuwerfen. Zuallerletzt irgendeine Armut.

Ist es Angst, ist es Furcht, die sie zurücktreibt? In vielen Fällen ja. Wie es oft Angst und Furcht war, die sie aus Ungarn weggetrieben hatte. Ist es Enttäuschung? Auch das. All das ist es, was ein Mensch fühlt, den ein revolutionärer Sturm aus seiner Heimat getrieben hat und der nun in der trostlosen Windstille der Emigration langsam zu versinken glaubt. Ein Ungar, der nicht mehr felsenfest davon überzeugt ist, daß das Leben in der Heimat untragbar war und das Leben im Westen eine unbedingte Notwendigkeit und der einzige Ausweg ist.

30.000 Menschen werden es wohl schon sein, von den 180.000, die im November 1956 flohen. Ein jeder von ihnen trägt seinen eigenen Grund mit sich, den er sorgfältig, wahrscheinlich auch vor sich selbst hinter der Vorspiegelung politischer und materieller, vor allem aber familiärer Beweggründe zur Rückkehr, verbirgt. Es war eine große, eine revolutionäre Welle, die sie hinausführte aus Ungarn. — Furcht vor den Russen und dem Kommunismus, Hoffnung auf den Westen. — Inzwischen vergingen vierzehn lange Monate, und an jedem Tag verblaßte das Bild des vergangenen Schreckens mehr und verflogen die überspannten Hoffnungen auf ein glückliches Leben im Westen. — Es ist eine armselige und illusionslose Rückwanderung im Zwischendeck. — Keine Schande für den Westen, der nur den Boden liecern konnte, aber nicht die Wurzeln, wie es kein Triumph für den Osten ist.

GYULA L., AUS EINEM LAGER IRGENDWO IN ÖSTERREICH. - „Wir leben nicht in Oesterreich, sondern auf einer Insel. Daß wir von der Insel nicht fortkommen und überhaupt eine Insel sind, liegt wahrscheinlich in uns. An unserem Mangel an Anpassungsfähigkeit. Aber ich will nicht mehr auf einer Insel leben. Und ich will auch nicht, daß meine Kinder irgendwo Fremde bleiben.“ — Ich war in dem Lager. Es ist nicht nur eine Insel, es ist politische Quarantäne. Hier,' in der riesenhaften Kaserne, umgeben von grauen Höfen, auf denen einige alte Autos stehen, die sich einige der Lager-Ungarn,die Arbeit haben, kaufen konnten, ist tiefstes Ungarn. Fast kein Schimmer Oesterreich dringt durch die dicken Mauern, überwindet die Schwerfälligkeit der Bewohner, die Unfähigkeit, die Sprache zu erlernen. Hier ist Ungarn, und ein Ungarn, das Demokratie und das Leben in dieser Demokratie nicht kennt und nicht begreift. Nur aus dieser Atmosphäre ist zu verstehen, was ein ehemaliger Dorfschullehrer in einem Nest am Plattensee über die Gründe sagt, die viele zur Rückreise bewegen: „Wir können uns nicht beklagen. Die Fürsorge der Oesterreicher ist glänzend. Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen und können Arbeit finden. Aber es sind die Schwerfälligen, die hier in den Lagern zurückgeblieben sind, die nicht in den österreichischen Städten aufgehen können. Wir sind in Oesterreich, aber wir leben nicht in Oesterreich, weil die Fürsorge für uns Schwerfällige keine Brücke ist, über die wir den Zugang zum österreichischen Denken und zur österreichischen Politik finden können. Warum sprechen die, die uns das Brot bringen, nicht über die österreichische Demokratie, warum sprechen sie nicht über die österreichische Verfassung, über die Geschichte Oesterreichs, in der so viele Wellen von Emigrationen aufgegangen sind, weil sie den österreichischen Geist' zu verstehen begannen. Wir verstehen ihn nicht, wir leben in einer politischen Quarantäne, aus der viele nur einen Ausweg .sehen: die Flucht zurück nach Ungarn, nachdem die Hoffnung auf eine Weiterreise nach dem Westen geschwunden ist.“

JANOS F., LANG, MAGER, MIT EINER BILDHÜBSCHEN FRAU und zwei Kindern. Alle in billige amerikanische Kleider gesteckt, die sie noch nicht zu tragen verstehen. Aber die Kinder sprechen etwas englisch und dje Frau kaut Kaugummi. „Wir kommen aus Kalifornien, aus Florida. Es scheint unwahrscheinlich, das einer von dort zurückkommt, nach Oesterreich und dann — nach Ungarn. Aber, Sie sehen, es ist so und wir sind nicht die einzigen “ — Tatsächlich sind drei Familien im Wartesaal, mit amerikanischem Anstrich, und es dürften mehr als 500 sein, die bereits aus den USA nach Ungarn zurückgekehrt sind. Die Gründe? — Hier sind die des J. F.: „Wir kamen mit den ersten aus Ungarn. Alles war leicht. Die Flucht, das Permit nach den USA, die Reise und dort Arbeit zu finden. — Anfang September begann man in Florida die Krise zu spüren. Es gab mehr Leute, die sich ihre Wagen selber wuschen, und weniger, die sie waschen ließen. Ich verlor meine Arbeit so schnell, wie ich sie bekommen hatte. Dann ging ich Arbeit suchen. An einer Hand fehlen mir vier Finger, nur der Daumen ist geblieben. Damit war es schon in Ungarn schwierig, Arbeit zu finden. Und viele Direktoren dachten sich einen Grund aus, um mich abzuweisen. Aber in Florida sahen sie auf die Hand, an der die Finger fehlen, und sagten einfach: ,No, Jack!'“

Und es gibt noch ernstere Gründe. Ein anderer berichtet: „Die Denunziation hängt dort über jedem Ungarn ajs ständige Drohung. Es genügt, wenn irgendein anderer zur Polizei geht und sagt: ,Der da ist ein AVO-Mann gewesen.' Ich gebe zu, daß es nicht viele Möglichkeiten der Untersuchung gjbt,. ob einer AVO war oder nicht. Aber das Verfahren, das sie drüben einschlagen, erscheint mir zu summarisch: Verhaftung, Schub bis an eine europäische Küste, und von da wird man weitergereicht bis zur ungarischen Grenze. Auch in Ungarn habe ich Denunziation kennengelernt. Sie schwebte über mir und sie wird mich wieder bedrohen, wenn ich zurückkomme. Aber da rechne ich damit, ich stehe ihr nicht allein gegenüber, es ist das ganze ungarische Volk, dessen Feind die Denunziation ist. Und das ist für den einzelnen nicht so aussichtslos.“

UND RINGSHERUM: „ICH LIESS MEINE ELTERN ZURÜCK und fahre zu ihnen.“ -„Meine Kinder sind in Budapest geblieben.“ — „Mein Hof liegt dort und hier arbeitete ich im Steinbruch“ und — „Ich habe zwei Kinder in Auschwitz verloren, und ich hatte Angst, die anderen zu verlieren. Ich traute es beiden Seiten zu, nach meinen Kindern zu greifen. Da bin ich geflohen, bis nach Israel. Jetzt ist Ruhe in Ungarn und, obwohl ich nicht weiß, wie lang sie dauern wird, ist sie mir lieber als die Gefahr in Israel. Dort stehen die Araber an den Grenzen und wollen nach den Kindern greifen, die mir geblieben sind.“

TAUSENDE ZIEHEN SICH ZURÜCK. Es war dieselbe Hoffnung, dieselbe Sehnsucht, die sie vor vierzehn Monaten nach dem Westen geführt hatte, aber es trägt jeder von diesen tausenden nunmehr seinen eigenen Grund mit sich nach Ungarn zurück. Nein, es ist keine Schande für den Westen, kein Triumph für den Osten. Vielleicht aber ein Zeichen dafür daß in diesei Zeit das Fühlen des einzelnen Menschen, sein persönliches Schicksal, sein persönlicher Auftrag stärker zu werden beginnt als die Kategorien der kollektiven Politik.

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