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Große Schuhe

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Chinas zweiter Mann nach Mao Tse-tung, Ministerpräsident Tschu En-lai, war vor nicht langer Zeit schwer krank. Die Nekrologe, die in der Weltpresse erschienen, waren zwar verfrüht, aber der 76jährige Arbeitsfanatiker, der bisher 14 Stunden am Tag gearbeitet hatte, mußte auf Schongang umschalten. Natürlich gibt es auch in der chinesischen Parteihierarchie zahlreiche talentierte und verdiente Männer, die in Tschus Schuhe schlüpfen möchten.

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Chinas zweiter Mann nach Mao Tse-tung, Ministerpräsident Tschu En-lai, war vor nicht langer Zeit schwer krank. Die Nekrologe, die in der Weltpresse erschienen, waren zwar verfrüht, aber der 76jährige Arbeitsfanatiker, der bisher 14 Stunden am Tag gearbeitet hatte, mußte auf Schongang umschalten. Natürlich gibt es auch in der chinesischen Parteihierarchie zahlreiche talentierte und verdiente Männer, die in Tschus Schuhe schlüpfen möchten.

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Um es gleich vorwegzunehmen: Tschu hat offensichtlich noch keinen unbestrittenen präsumptiven Erben! Um so mehr Kandidaten tauchen auf. Im Zentralkomitee der Partei gibt es noch weitere vier Stellvertretende Vorsitzende, unter ihnen den Mann „Nr. 3“, den kaum 40 Jahre alten Parteikommissär Wang Hung-wen, der vorläufig wegen seines Alters nicht die besten Chancen haben dürfte.

Kang Sheng war einer der Organisatoren der Kulturrevolution; er besitzt großes Ansehen, aber eine schwache Gesundheit und kaum genügend Popularität.

Vizepräsident und General Li Ten-sheng hinwiederum ist Kommandeur des äußerst wichtigen nordöstliche Militärdistrikts. Er besitzt zwar große Autorität, ist aber gewissermaßen kompromittiert, weil er zur Gefolgschaft des „Verräters“ Marschall Lin Piao gehörte und deswegen öffentlich schon wiederholt angegriffen wurde. Im Vorjahr geriet er ins Feuer der Kritik, weil er angeblich in der Armeezeitung nicht genug Propagandamaterial über die „Lin-Piao-Clique“ veröffentlichen hatte lassen.

Yen Chien-ying des weiteren, ist ein Veteran des „Langen Marsches“ Maos vor 40 Jahren, noch immer begabt mit militärischen, aber mit keinen politischen Führungsambitionen.

Chang Chun-chiao zählt nicht zu den Vizepräsidenten, aber er ist Mitglied des Politbüros und wird als aussichtsreichster Kandidat für die administrative Führungsposition in der Partei angesehen. In Shanghai hat er die Kulturrevolutionäre gebändigt, womit er sich den Beinamen „guter Revolutionär“ erwarb.

Tschu En-lai ist ein Allround-Poli-tiker, der nicht nur als Ministerpräsident fungiert, sondern die Lenkung der Außenpolitik und der Wirtschaftsplanung ebenfalls an sich zog.

Da er nach der Erkrankung seine Aktivitäten einschränken mußte, wird er die Finanzen und die Wirtschaftsplanung voraussichtlich dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Li Hsien-nien übergeben. Ein anderer Stellvertretender Ministerpräsident und Vertrauter Tschus, Teng Hsiao-ping, dürfte das Ruder der Außenpolitik übernehmen. Teng hat einen dornenvollen Weg hinter sich, mußte er doch sieben Jahre lang wegen seiner Tätigkeit zur Zeit der Kulturrevolution in Ungnade schmachten. Erst in jüngster Zeit durfte Teng wieder an der Seite Maos und Tschus in der Öffentlichkeit erscheinen, als der pakistanische Ministerpräsident Bhutto in Peking weilte. Teng besitzt jedoch keineswegs Tschus Humor, Anziehungskraft und Beherrschung der Details, Eigenschaften, mit denen Tschu ausländische Staatsmänner und Diplomaten immer noch verblüfft hat. Fortan wird Tschu nur noch die graue Eminenz der chinesischen Außenpolitik sein, doch wird er dennoch die Zügel nicht schleifen lassen. Alter und Krankheit erlauben nicht länger, daß Tschu En-lai die oft bewunderte doppelte Starrolle eines Parteiführers und eines Regierungschefs weiter spielt und bei der Planung und Ausarbeitung der Außenpolitik wird das Zentralkomitee wahrscheinlich mehr mitzureden haben als-bisher.

Unter den gegebenen Umständen scheint es jedenfalls kaum möglich, daß der kranke, geschwächte Tschu von dem 80 Jahre alten Mao die Funktionen des „Großen Vorsitzenden“ jemals — wie ursprünglich geplant — übernehmen könnte.

China hat schon seit geraumer Zeit keinen Staatschef, keinen Verteidigungsminister, keinen Generalstabschef und keinen KP-Generalsekretär mehr. Was aber wird geschehen, wenn das unbeugsame Schicksal Mao und Tschu von der Bühne abberuft?

Unter den engsten Mitarbeitern Tschus gibt es mehrere erprobte Politiker, tapfere Soldaten und erfahrene Administratoren, von denen er noch manche in Führungspositionen emporzuheben gedenkt. Zu ihnen gehören außer Teng und Li noch der Kommandeur des großen Pekinger Militärdistrikts, General Chen Hsi-lien; des weiteren der ambitionierte Armeeführer und Veteran Yeh Chien-ying, der Außenminister Chi Peng-fei und sein Stellvertreter Chiao Kuan-hua, der sich mit Henry Kissinger gut versteht, sowie der „Oberbürgermeister von Peking“ und Leiter der hauptstädtischen Administration, Wu Teh, der mit Tschu befreundet ist. ,

Natürlich gibt es auch oppositionelle Tendenzen, ja sogar kritische Gruppen. Manche Militärkommandanten, wahre „Provinzkönige“, verloren zu ihrer Warnung ihre Parteiämter und wurden öffentlich kritisiert. Das vergißt ein General auch im kommunistischen China nicht so leicht.

Die weltweite Kampagne gegen Konfuzius und Lin Piao nahm unterdessen übertriebene, mitunter auch komische Formen an, sogar archäologische Ausgrabungen wurden auf den Pranger gestellt.

Die Loyalität des politischen Pragmatikers Tschu En-lai und seiner Mannen gegenüber Mao Tse-tung wurde niemals bezweifelt. Was den Idealisten Tschu am meisten quälen dürfte, ist die Erkenntnis, daß niemand eine effektvolle Politik betreiben kann, hat er einmal die Macht verloren.

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