6853223-1977_04_01.jpg
Digital In Arbeit

Tschu En-lais Apotheose

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Jahr nach dem Tod des chinesischen Pragmatikers Tschu En-lai beging das chinesische Volk zum zweiten Mal, und diesmal ausgiebig, dieses Ereignis - und es sieht so aus, als würde aus der Trauerfeier eine Auferstehung. Zwar nicht von Tschu En-lai selbst, aber doch in seiner Linie, die Teng Hsiao-Ping vertreten hatte - bis er im April des Vorjahres seiner leitenden Funktionen beraubt wurde. Übrigens ebenfalls im Zusammenhang mit Tschu En-lais Tod: denn der 4. Aprü ist der chinesische Totengedenktag, und auf dem Pekinger Tien- An-Men-Platz hatten sich die Trauerkundgebungen für Tschu schon damals in Sympathiebeweise für Teng Hsiao-Ping verwandelt. Was ihm nicht gut bekam, denn seit damals lief die Kampagne gegen „Teng und den Wind von rechts”.

Schuld an dieser Kampagne, so hört man es in Peking immer öfter, ist die jetzt entmachtete Viererclique um Maos Witwe Tschiang-Tsching gewesen; und man kann in absehbarer Zeit mit einer Rehabüitierung Tengs rechnen. Gerüchte wollen davon wissen, daß er schon jetzt im Staatsrat wieder arbeitet; der Ruf nach Teng Hsiao- Pings Rückkehf bestimmt auch die Aktivitäten zum Jahrestag von Tschu En-lais Tod. Hunderttausende von Pekinger Bürgern waren unterwegs, um - teüs in Lastwagenfuhren - Kränze für Tschu niederzulegen; man läßt sich neben seinem Karton-Büd photographieren, man schreibt die Wandzeitungen ab, man hält Reden oder hört ihnen zu. Beobachter stellen erstaunt fest, daß die Kundgebungen - im Gegensatz zu sonst - tatsächlich spontanen Charakter tragen, wenn sie auch sicher von den Obrigkeiten gebüligt, wenn nicht gar unterstützt werden.

Besonders interessant die Wandzeitungen, auf denen sich so etwas wie eine Ent-Maoisierung mit Hüfe von Mao-Zitaten abzeichnet. Nicht nur, daß die üblichen Bezeichnungen wie „vielgeliebt”, „verehrt”, ohne die eine Zitierung des „Großen Vorsitzenden” noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre, stark reduziert wurden- man verwendet sie jetzt für den ebenfalls im Vorjahr verstorbenen Tschu.

Dichter, Kalligraphen und Künstler bestreiten die riesige Fläche der Wandzeitungen, die - Pikanterie am Rande - auf jene Palisaden geklebt werden, die die Baustelle für das künftige Mao-Mausoleum verstecken. Das Niveau ist beachtlich: nicht nur, daß die Schriftzüge oft klassische Schreibkunst beweisen, sind sie auch textlich anspruchsvoll. So konnte man ein Gedicht in (moderner) horizontaler Lesart zur Ehre Teng Hsiao-Pings lesen; senkrecht (klassisch) entziffert, las man: „Teng Hsiao-Ping ist unschuldig.” Ähnlich kreuzworträtselartig auch ein Gedicht, in dem der Pekinger Bürgermeister Wu Teh als „der ohne Tugend” erscheint.

Wu Teh, der im Aprü 1976 auf demselben Platz jene Rede hielt, in deren Folge Teng Hsiao-Ping die Bühne verließ, dürfte wohl als nächstes Opfer des Nachfolgekampfes fallen. Auf seine Abberufung konzentriert sich ein Großteü der Da-dze-baos (Wandzeitungen); „er hat das Vertrauen des Volkes verloren”. Wesentlichere Forderung: Hua Kuo-feng soll Teng Hsiao-Ping wieder arbeiten lassen. Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Entwicklung vollzieht, kam für alle Beobachter unerwartet- noch zu Jahresende betonte auch die neue Führung, der Kampf gegen Teng Hsiao- Ping müsse weitergeführt werden; heute sind solche Passagen sogar aus dem Film über das Mao-Begräbnis he rauszensu riert.

Bei den Massenkundgebungen auf dem Tien-An-Men-Platz ( sie dauerten vom 6. bis 16. Jänner) war eine politische Sprache zu hören, die es seit acht Jahren nicht mehr gegeben hatte. So berichtet der Korrespondent der französischen Zeitung „Le Monde” von einem jungen Mann, der vor Arbeitern eine Ansprache über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte hielt - Vokabel „aus einer anderen Welt”.

Nur wenn man bedenkt, wie unerhört stereotyp die Parteisprache Pekings klingt, kann man das Neue der Situation richtig einschätzen: sie kommt einem politischen Erdbeben gleich, das den Gerüchten über bewaffnete Zusammenstöße um nichts nachsteht.

Das Ausmaß dieser vor allem im Westen breit kommentierten Zwischenfälle kann man schwer beurteilen. Sicher ist, daß die „Quadriga” Um Tschiang-Tsching seit dem Frühsommer 1976 versucht hatte, über die (paramilitärischen) Volksmilizen ihre Macht zu festigen; in mindestens zehn von den 26 chinesischen Provinzen gab es Zeichen von Agitation und Instabilität auch nach der Verhaftung der Vier. Schaden für die Wirtschaft entstand nicht nur durch die militärischen Aktionen, sondern überhaupt durch die Unordnung, Streiks, Unterbrechungen der Transportwege usw. Der Taiwan-Geheimdienst glaubt zu wissen, daß Verbände des Militärbezirks Kanton während oder kurz vor der Verhaftung der Quadriga alle wichtigen Schlüsselpositionen in Schanghai besetzt hatten - Schanghai war immer die Hochburg der „Linken”.

„Links” allerdings ist in China immer derjenige, der die Macht hat; alle anderen können nur „Rechtsabweichler sein”, eine Einstellung, die man nur dadurch aufrecht erhalten kann, daß man sich nach wie vor in der Anti- Tschiang-Tsching-Kampagne jeder sachlichen Diskussion enthält.

Dagegen begegnet man allenthalben jenen Werten, in deren Namen Hua Kuo-feng angetreten ist, nämlich Ordnung, Stabilität, Einigkeit. Dies dürfte den Hoffnungen der breiten Masse der Chinesen entsprechen, denen die Wehen der Kulturrevolution noch in den Knochen sitzen. Man geht wohl nicht fehl, daß auch die plötzlich aufgebrochene Überschwemmung mit Nachrichten über militärische Aktionen der Vierergruppe in diesen Zusammenhang gehören: die offizielle Propaganda wül ihnen den Stempel der Unruhestifter aufdrücken, wohingegen Hua Kuo-feng für Fortschritt und bescheidene Anhebung des Lebensstandards steht. Damit setzt er auf die Linie Tschu En-lais, der seit Anfang 1975 für Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung eintrat.

Die Entscheidung über die Zusammensetzung der neuen Führung wird sicherlich - ebenso wie die Absetzung der alten - hinter fest verschlossenen Vorhängen vor sich gehen; das Volk darf höchstens via Wandzeitungen mitbestimmen. Inzwischen bleiben die Machthaber unsichtbar - sie sind, in Pekinger Sprechweise, „damit beschäftigt, die internen Gegensätze zu lösen”.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung