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Die Ideologie der gelben Roten

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In Schanghai, Chinas größter Stadt, Gründungsort der Kommunistischen Partei Chinas vor 58 Jahren, Brutstätte vieler revolutionärer Ideen und Hauptstützpunkt der „Viererbande”, hatte die Delegation österreichischer Journalisten, die im Juli und August die Volksrepublik China bereiste, eine mehr als drei Stunden dauernde Diskussion mit Zhoü Kang, dem 66jährigen Leiter des 1978 neugegründeten Instituts für philosophische Forschung, über Fragen der zeitgenössischen Ideologie-Interpretation. Hier ein Auszug aus dem Gespräch:

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In Schanghai, Chinas größter Stadt, Gründungsort der Kommunistischen Partei Chinas vor 58 Jahren, Brutstätte vieler revolutionärer Ideen und Hauptstützpunkt der „Viererbande”, hatte die Delegation österreichischer Journalisten, die im Juli und August die Volksrepublik China bereiste, eine mehr als drei Stunden dauernde Diskussion mit Zhoü Kang, dem 66jährigen Leiter des 1978 neugegründeten Instituts für philosophische Forschung, über Fragen der zeitgenössischen Ideologie-Interpretation. Hier ein Auszug aus dem Gespräch:

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Wodurch unterscheidet sich die heutige offizielle Interpretation des Mar- xismus-Leninismus-Maoismus von der zu Lebzeiten Maos?

ZHOU: Seit 1978 diskutieren wir in ganz China über den Grundsatz, daß die Praxis das Kriterium der Wahrheit ist Die Lin-Biao-Clique und die Viererbande haben diesem Grundsatz nur ein Lippenbekenntnis gezollt. Das von der Lin-Biao-Clique heraysgebrachte Rote Büchlein mit Mao-Zitaten wurde nicht an der Praxis erprobt. Bücher lesen allein aber ist zuwenig. Erfahrung ist ebenso wichtig, damit man sich einen Plan für das Handeln zurechtlegen kann. Drei Dinge hat die Lin-Biao-Clique übertrieben und damit Entstellungen verursacht:

Erstens hat die Viererbande den Klassenkampf übertrieben, indem sie diesen und nicht die Produktionsarbeit als grundlegende Praxis betrachtete. Klassenkampf war für sie wichtiger als Getreideproduktion. Zum zweiten haben die Lin-Biao- Clique und die Viererbande, obwohl wir Kommunisten doch Atheisten sind, Maos Thesen wie religiöse Dogmen oder wie ein Dekret des Kaisers aus feudalistischer Zeit verbreitet, ohne daß man ihnen widersprechen durfte. Drittens wurde damit die Grundthese des Historischen Materialismus, daß das Volk und nicht einzelne Persönlichkeiten die Schöpfer der Geschichte sind, auf den Kopf gestellt. Mao wurde buchstäblich vergöttlicht…

Ist die Viererbande auch heute in Schanghai noch eine Kraft, mit der man rechnen muß?

ZHOU: Ihr verderblicher Einfluß existiert in dieser Stadt tatsächlich noch in verstärktem Maß. Mehrere Richtlinien des heutigen Zentralkomitees der KPCh werden hier nicht konsequent verwirklicht. Die Vier Modernisierungen (von Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung und Wissenschaft/Technik, d. Red.) werden von manchen noch als Rechtsrevisionismus abgelehnt.

Werden jetzt diese Leute, die die neue Linie sabotieren, aus ihren Posten verdrängt wie früher die heute rehabilitierten Kader?

ZHOU: Nein. Die Zerschlagung der Viererbande muß mit Maß erfolgen. Wir kehren zum Beispiel zu den Aufnahme- und Zwischenprüfungen im Schulsystem zurück. Auch das stieß auf Widerstand.

Wird nicht mm heutigen ZK einfach eine sehr pragmatische, mn wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktierte Politik verfolgt?

ZHOU: Das ist unmöglich. Pragmatiker sind Idealisten. Wir sind Materialisten. Der Pragmatiker denkt nur an sich und seinen Nutzen. Wir arbeiten für das Volk und für die Revolution. Für den Pragmatiker ist Wahrheit gleich Nützlichkeit. Die Pragmatiker sind bürgerliche Individualisten und haben nur den Nutzen der bürgerlichen Klasse im Auge. Das Proletariat arbeitet für die Befreiung der ganzen Menschheit.

Ist das im heutigen China ständig verkündete Prinzip „Wer mehr leistet, soll auch mehr dafür erhalten” wirklich ein sozialistischer Grundsatz” und nicht ein sehr kapitalistischer?

ZHOU: Es ist ein Teil des alten sozialistischen Verteilungsgrundsatzes, daß im Sozialismus .jeder nach seinen Fähigkeiten” arbeiten und .jeder nach seiner Leistung” entgolten werden solL Erst wenn im Kommunismus es Produktion in Hülle und Fülle gibt und die Klassenunterschiede beseitigt sind, wird das Prinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen” gelten. Die von der Viererbande betriebene Gleichmacherei hat unserer Wirtschaft schweren Schaden zugefugt.

Kahn man die heutige Ideologie der KPCh mn jener der KPdSU überhaupt noch unterscheiden? Sie vertreten doch auch jetzt das, was Sie als „Chruschtschows Gulasch-Kommunismus” verdammt haben!

ZHOU: Chruschtschow hat das Positive an der Rolle Stalins, das wir noch immer anerkennen, völlig verneint und einen Rechtsrevisionismus betrieben. Unsere Linksrevisionisten wieder haben alles an Chruschtschow verdammt. Wir haben das richtige Verhältnis wiederhergestellt.

Sie reden mn Chruschtschow. Aber nun ist Breschnew am Ruder und in China das Regiment der Linksrevisionisten zu Ende gegangen. Heute sind Sie für materielle Anreize in der Entlohnung, für die Akzentverlagerung von der Schwer- zur Leicht- und Konsumgüterindustrie - man kann den Breschnew-Kommunismus und den Hua-Kommunismus nicht mehr mneinander unterscheiden …

ZHOU: Breschnew hat das Erbe Chruschtschows und Hua das Erbe Maos angetreten. Sie haben auch die Differenzen geerbt Hua wird das Richtige an der Politik Maos zur Vollendung bringen.

Die Kulturrevolution sollte den wachsenden Bürokratismus und die Herausbildung einer neuen Klasse der Funktionäre und Volksausbeuter verhindern. Was tun Sie jetzt, um dieses Ziel zu erreichen?

ZHOU: Daß eine neue Ausbeuterklasse entstehen kann, ist eine Tatsache. Einzelbauern und kleine Produzenten können jeden Augenblick zu neuen Ausbeutern werden. Auch Arbeiter mit einer rückständigen Ideologie können degenerieren. Selbst für Kader hat schon Lenin eine solche Möglichkeit vorausgesehen. Aber das Entstehen einer neuen Grundbesitzer- oder Bourgeoisklasse ist heute nicht mehr möglich. Lin Biao hat ja selbst Nachfolgekämpfe zur Kaiserzeit als Klassenkampf gedeutet, da ist lächerlich.

Uns fallt auf, daß Sie den ehemaligen Verteidigungsminister Lin Biao heute stets mit der Viererbande in einem Atemzug nennen, während noch vor fünf Jahren die Viererbande Lin Biao zusammen mit Konfuzius als großen Bösewicht verdammte. Wo gehört Lin Biao also wirklich hin?

ZHOU: Als er 1971 das Vaterland verraten wollte, dabei ertappt wurde, mit einem Flugzeug floh und bei einem Absturz ums Leben kam, sah die Viererbande eine günstige Gelegenheit, sich gegen ihn zu wenden und zu vertuschen, daß sie mit ihm lange Zeit unter einer Decke gesteckt war. Aber die Lin-Biao-Clique und die Viererbande sind aus einem Topf gekommen.

Sind die ständigen Ideologie- und Machtkämpfe in der Volksrepublik China nicht sehr energieaufwendig und kostspielig?

ZHOU: Meine Aufgabe ist philosophische Forschung. Andere Fragen habe ich nicht so gewissenhaft studiert, daß ich dazu ein Urteil abgeben könnte.

Welchen Stellenwert hat in Ihrer Philosophie das Leben eines einzelnen Menschen? Diė Volksrepublik China hat zum Beispiel in Tibet die Leibeigenschaft beseitigt. Das war eine zivilisatorische Leistung. Aber dieselbe Volksrepublik China opfert Zehntausende Menschen in einem sinnlosen Krieg, nur um Vietnam nach Art der Großmächte von gestern „eine Lektion zu erteilen”…

Apropos Opfer: Da gehören Lin Biao und die Viererbande wieder zusammen. Für mich ist es das größte Glück, daß ich nach mehr als vierjähriger Verbannung durch die Viererbande wieder zu wissenschaftlicher Arbeit zurückkehren konnte. Tausende meiner Gesinnungsfreunde sind Opfer der falschen Politik geworden und konnten nicht mehr zurückkehren. Was aber den Krieg betrifft, so muß man zwischen einem gerechten und einem ungerechten Krieg unterscheiden. Einen gerechten muß man unterstützen.

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