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„In einem Revolutionszeitalter“

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„In an Age of Revolution“ (In einem Revolutionszeitalter) nennt sich ein kürzlich veröffentlichtes Buch des Erzbischofs von York, Cyrill Carbett.

Das Buch hat Aufsehen erregt, denn Doktor Carbett stellt darin eine von vielen Engländern als unerhört empfundene Frage: Wann hat England aufgehört, ein christliches Land zu sein? 1914? Oder 1920? Oder erst später?

Man kann die englische Nation zwar noch immer als eine christliche bezeichnen. Der englische Bürger heiratet in der Kirche, läßt seine Kinder in der Kirche taufen und wird von der Kirche zu Grabe geleitet. Er liebt die Hochämter in St. Pauls und in der West-minster-Abtei bei staatswichtigen Anlässen, wie der Krönung seines Souveräns, und nimmt regelmäßig an den Gedächtnisfeiern für die Gefallenen der beiden Weltkriege teil. Aber das alles ist nicht mehr als ein alter Brauch, eine Sitte, eine Gewohnheit, kurz eine erstarrte Form, der der lebendige Inhalt verlorengegangen ist. Denn „Religion ist heute nur noch das Interesse einer kleinen Gruppe von Leuten“.

Nicht falsche Glaubensanschauungen, fährt Dr. Carbett fort, sind für die traurige Lage, in der sich die Kirche befindet, verantwortlich, sondern eine immer weiter um sich greifende „metaphysische Noncholance“. Die meisten Menschen setzen sich mit dem Problem einer geistigen, jenseits der Sinnesdaten liegenden Welt nicht auseinander, weil es sie einfach nicht interessiert. (Die Statistiken ergeben, daß nur zehn Prozent der englischen Bevölkerung regelmäßige Kirchenbesucher sind. Ich selbst habe beim Karfreitagsgottesdienst in einer städtischen anglikanischen Kirche unter den wenigen Anwesenden hauptsächlich alte Leute, nur vier oder fünf junge und gar keine Vertreter der mittleren Jahrgänge gesehen. In den südlichen Grafschaften sollen die Ostergottesdienste allerdings besser besucht gewesen sein.) Genau genommen, müßte ganz Britain einer großen, neuen Bekehrungsaktion unterworfen werden, aber auch von diesem Unternehmen verspricht sich Dr. Carbett zur Zeit nicht allzu großen Erfolg. Die Kirche müßte sich also einstweilen damit abfinden, daß die Interessen des Gegenwartsmenschen nur weltlicher Natur sind, und von dieser Tatsache ausgehend, demonstrieren, inwiefern nur das Christentum für die trostlose politische und ökonomische Situation unserer Zeit eine befriedigende Lösung finden kann.

Aehnliche Feststellungen machte vor einigen Wochen der Rektor der St. Mary's Church, Langdon Hills, der Reverend W. T. Hickson, als beim Kirchenjahrestreffen 1952 nur 11 Personen erschienen. „Wenn das noch lange so weitergeht, werden wir uns eines Tages in einem heidnischen England befinden.“ Es besteht die Gefahr, daß die Church of England eines Tages nichts mehr sein wird als eine Sekte in einer säkularen Welt!

Eines etwas größeren Andranges erfreuen sich, auf anderer Seite, die Gotteshäuser, Sonntagsschulen, und sonstigen religiösen Veranstaltungen der sogenannten Nonkonformismen, der in England nicht zur anglikanischen Kirche gehörenden Protestanten (Presbyterianer, Kongregationalisten, Baptisten, Methodisten u. a.). 1951 besuchten 805.659 Kinder die Sonhtagsschulen der Methodisten, d. h. fast um 100.000 mehr als bei Kriegsende. Die „Hauptquartiere“ der Heilsarmee sind Samstag, Sonntag so überfüllt, daß man nur mit Mühe einen Sitzplatz erkämpfen kann. Auch kenne ich ziemlich viele Männer und Frauen, für die der Kirchenklub ihrer Baptisten- oder Kongregatio-nalistengemeinde das Zentrum ihres sozialen und geistigen Lebens darstellt. Bei diesen Leuten handelt es sich allerdings vorwiegend um Angehörige des Kleinbürgertums, also um Beamte lokaler Behörden, kleine Angestellte und Facharbeiter, während sich die Church of England von jeher größtenteils aus dem Großbürgertum, der Intelligenz, dem kleinen Landadel und dem Hochadel rekrutierte.

Ob die oben geschilderten Schwächezustände der anglikanischen Kirche mit dem sozialen und politischen Machtverfall der englischen Oberklassen historisch zusammenhängen, ist nicht leicht zu sagen. Doch besteht die Möglichkeit, „denn die Church of England war nie eine Weltkirche“. Ihr Bestehen und Gedeihen war jahrhundertelang auf das engste mit jener stolzen und hochbegabten Herrenkaste verknüpft, der die Existenz des britischen Weltreiches zu verdanken ist, und die für Europa und die übrige Welt das echte Engländertum repräsentierte.

Obwohl der Durchschnittsengländer von 1952 nicht gerade als ein Streiter für das Christentum bezeichnet werden kann, hat die christliche Tradition doch tief in ihm Wurzel geschlagen. Sie war es, die seinen Charakter mit Toleranz, Gerechtigkeitssinn und Nächstenliebe ausgestattet hat, sie war es, die sein liberal-demokratisches Denken, welches England trotz aller Veränderungen noch immer beherrscht, ausgebildet hat. Wie oft hört man aus dem Munde ganz einfacher Leute: „So dürfen wir nicht handeln, es wäre nicht ge-lecht.“ Oder: „Ich werde erst an seine Schuld glauben, wenn sie im Gerichtssaal bewiesen worden ist.“ Oder: „Es ist nicht fair, über einen Menschen schlecht zu sprechen, der sich nicht verteidigen kann“. Oder: „Sie hat das Recht, ihre Meinung jederzeit offen zu äußern.“ Und so weiter und so weiter.

Auch die folgende kleine Begebenheit ist typisch für dieses „Denken der Rücksicht“:

Einer der führenden englischen Astronomen war während eines Radiovortrages über Weltentstehungstheorie an einem Punkt angelangt, wo physikalische Theorie und Genesis sich, seiner Meinung nach, nicht mehr vereinigen ließen. Er unterbrach daher seinen Vortrag mit den Worten: „Diejenigen Damen und Herren, welche sich zur Schöpfungsgeschichte der christlichen Religion bekennen, bitte ich nun, ihren Radioapparat abzuschalten.“

In dieser Lage bieten die zahlreichen Uebertritte zur römisch-katholischen Kirche, besonders in Akad>rmikerkreisen und der übrigen intellektuellen Oberschicht, auch beim Engländer keine Ueberraschung, wenn es sich nicht gerade um so Prominente wie den Jur^ten Sir Henry S 1 e s s e r, eine bekannte Persönlichkeit aus dem öffentlichen Leben, den Physiker Sir Edmund Whitt-a c k e r (er ist heute Mitglied der päpstlichen Akademie!) oder die Autoren Graham Greene und G. K. Chesterton handelt. Aber auch in Arbeiterkreisen finden Konversionen immer häufiger statt. Das ist in großem Ausmaß der Gesellschaft „Young Catholic Worker“ (der junge katholisäe Arbeiter) zu verdanken, die sich die. schwierige, aber lohnende Aufgabe gestellt hat, in den Industrie- und Slumgebieten Fuß zu fassen.

Viele dieser Konvertiten haben die Gründe ihrer Umkehr öffentlich bekanntgegeben. So zum Beispiel Sir Henry Slesser in einem aufschlußreichen Traktat „Trough Anglicanisem to the Church“ („Vom Anglikanismus zur Kirche“). Als Angehöriger der sogenannten Anglo Catholic Church, der „hochkirchlichen Bewegung“ in der Church of England, stand Sir Henry, vor allem, was die Gestaltung des Gottesdienstes anbelangt, der Katholischen Kirche von vorneherein verhältnismäßig nahe. Die Anglo Catholic Church konnte ihm jedoch nicht erfüllen, was er später, als römischer Katholik, in einem einzigen Satz ausgedrückt hat: „Ich habe in der katholischen Kirche jene Autorität in Fragen des Glaubens und dessen Ausübung gefunden, die ich schon seit langem für notwendig hielt.“

Abschließend nimmt Sir Henry zum Schicksal Europas Stellung und erklärt, er sei zu der Ueberzeugung gekommen, daß nur der katholische Glaube als ein allen Völkern gemeinsamer Glaube die Kraft habe, die alte Welt zusammenzuschmieden, während eine nur zweckmäßige Föderation auch militärischer oder ökonomischer Grundlage auf die Dauer nicht dazu imstande sein kann.

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