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Church and State in England

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Dr. Cyril Garbett ist nicht mehr ganz derselbe Mann, der nach seiner Rückkehr von einer Moskauer Reise die Ansicht zum besten gab, was man von der angeblichen Religionsfeindlichkeit der Kommunisten behaupte, sei alles Unsinn und lediglich ein Hirngespinst katholischer Propaganda; oder der bei einem Besuch in den USA, es ist kaum zwei Jahre her, seinen erstaunten Zuhörern erzählte, das größte Hindernis für die friedliche Einigung Europas sei nicht der Kommunismus, sondern der Katholizismus. Seither hat selbst er, so sehr er sich dagegen wehrte, die Gefahr zur Kenntnis nehmen müssen, die der gesamten christlichen Welt durch den militanten Atheismus droht, und mit dieser späten Einsicht ist ihm auch ein gewisses Maß von anerkennendem Verständnis für die Aufgaben und die Haltung der katholischen Kirche in dem ihr aufgezwungenen Abwehrkampf erwachsen. Aber zu einer gründlichen Revision des kirchengeschichtlichen Bildes, das er sich wohl schon vor vielen Jahren, als junger Student, zurechtgelegt hatte, ist er damit noch nicht gekommen, und so nimmt er auch an manchen Stellen seines jüngsten Buches die Gelegenheit wahr, um seinem anglikanischen Ressentiment, namentlich gegen den päpstlichen Primat und die historische Stellung des Papsttums, Luft zu machen. Das soll ihm aber nicht weiter vorgehalten werden, denn das eigentliche Thema seines Buches ist das heutige Verhältnis der anglikanischen Kirche zum Staat, und was er zu diesem Thema zu sagen hat, verrät die tiefe Sorge, mit der ihn die zunehmende Säkularisierung des Staates und der um sich greifende Unglaube auch in einem Lande, das sich noch christlich nennt, erfüllen; und das ist eine Sorge, die jeder Christ, gleich welcher Konfession oder Nation, der die Dinge sieht, wie sie wirklich sind, mit dem anglikanischen Bischof von York teilen muß.

Entsprechend der seit langem beobachteten Durchschnittszahl anglikanischer Kindstaufen müßte annähernd die Hälfte der Bevölkerung Englands der Staatskirche zuzuzählen sein. Tatsächlich aber bekennen sich von deri Ichätzungsweise 32,26 Millionen Erwachsenen (über 14 Jahren), die jetzt in England und Wales leben, kaum noch drei Millionen als tätige oder wenigstens nominelle Angehörige dieser Kirche. Auch die Zahl des anglikanischen Klerus ist von 25.000 zu Beginn des ersten Weltkrieges auf gegenwärtig 15.000 gesunken. Diesen Verlusten stehen keine entsprechenden Gewinne der katholischen Kirche oder der einzelnen protestantischen Sekten gegenüber, wie aus der bestürzenden Tatsache hervorgeht, daß von den englischen Untertanen des Königs, der noch immer den päpstlichen Titel eines „Verteidigers des Glaubens“ führt, nicht weniger als 78% der Erwachsenen, das heißt rund 25 Millionen, außerhalb jeder kirchlichen Gemeinschaft leben und eine konfessionelle Bindung überhaupt ablehnen. Dr. Garbett sieht die Wurzel des Übels im „Establishment“, im Verhältnis der anglikanisch-kirchlichen zur staatlichen Gewalt, wie es sich im Laufe .der Zeit gesetzlich und gewohnheitsrechtlich herausgebildet, hat. Er'ver-weist in seinem Buch immer wieder, und sehr mit Recht, auf das Unhaltbare und Entwürdigende eines Zustandes, der die Wahl der Bischöfe praktisch völlig in die Hand der Regierung legt; der es der Church Assembly, also der aus den Kammern der Bischöfe, des Klerus und der Laienvertreter zusammengesetzten Nationalsynode, ausdrücklich untersagt, sich mit irgendwelchen Definierungen oder Entscheidungen in Glaubens- oder Sittenfragen zu beschäftigen, ja ohne vorherige Erlaubnis der Regierung überhaupt zusammenzutreten; der auch die kleinsten Abänderungen bestehender kanonischer, liturgischer oder administrativer Vorschriften von einem Parlamentsbeschluß abhängig macht; und der die Lösung dogmatischer Streitfragen in letzter Instanz dem Privy Council überläßt, einer Körperschaft von Laien also, in der vielleicht — wie bestimmt im heutigen Parlament — die Nichtanglikaner, wenn nicht sogar die Nicht-christen, überwiegen.

Zur Abhilfe empfiehlt Dr. Garbett nicht etwa die Aufgabe des Status einer Staatskirche; wenn das geschähe, so meint er, würde die Kirche einen großen Teil ihres Ansehens und Einflusses verlieren, und er findet es „vernünftig“, daß der Staat als Entgelt gewissermaßen für die der „historisch prädestinierten Nationalkirche“ eingeräumten Privilegien auch in dogmatischen und liturgischen Fragen ein gewisses Aufsichtsrecht ausübe. Dr. Garbett wünscht aber eine Beschränkung dieses Auf-nchtsrechtes auf Grundsätzliches und seiner Kirche ein größeres Maß von Freiheit in der Ordnung und Verwaltung ihrer internen Angelegenheiten. Allerdings, welche praktischen Auswirkungen auf das religiöse Leben sich der Erzbischof von solchen Änderungen verspricht, darüber sagt er sehr wenig. Seiner eigenen Feststellung gemäß würde jedwege innere Reform der anglikanischen Kirche zu Spaltung und Abfall führen, sofern sie nicht von der überwiegenden Mehrheit der Laienschaft und des Klerus gebilligt wird. Was also berechtigt ihn zur Erwartung, daß eine mit größerer Autonomie ausgestattete Church Assembly die Einhelligkeit zeigen würde, die sie jetzt bei allen wichtigeren Anlässen vermissen läßt, oder daß sich jene „überwiegende Mehrheit“ gewinnen ließe, die gewillt und imstande wäre, der heillosen Konfusion ein Ende zu bereiten, welche, nicht erst seit heute, selbst in der Auslegung der Fundamentalsätze des christlichen Glaubens sogar unter den hohen Würdenträgern der anglikanischen Kirche herrscht? Auf diese Fragen gibt Dr. Garbetts Buch keine Antwort, noch verrät es auch nur die Anfänge der Erkenntnis, daß das Übel, dem es steuern will, die unausweichliche Folge des verhängnisvollen Schrittes ist, der die englische Kirche des 16. Jahrhunderts von der Suprematie des Papstes „befreite“, uro sie der Gewalt des Staates zu überantworten. Trotzdem, es ist ein verdienstvolles und bedeutendes Buch, welches mit seinem Gedankenreichtum und seiner offenen, ja wuchtigen Sprache viele und — es ist zu hoffen — fruchtbare Diskussionen über grundsätzliche Dinge anregen wird.

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