Westliche Diplomatie in Nahost: Die irritierende Doppelmoral

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Ausgerechnet die für den Holocaust verantwortlichen Länder setzen sich zu wenig für „das Recht auf Leben“ ein. Das konterkariert auch Österreichs Dialogfähigheit im Nahostkonflikt.

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Ausgerechnet die für den Holocaust verantwortlichen Länder setzen sich zu wenig für „das Recht auf Leben“ ein. Das konterkariert auch Österreichs Dialogfähigheit im Nahostkonflikt.

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In letzter Zeit mehren sich die Appelle, der so genannte Westen solle sich auf die diplomatische Realpolitik (rück)besinnen. Andernfalls, so wird argumentiert, würde der wahre Zweck der Diplomatie – unterschiedliche Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen verschiedenster Staaten auszugleichen – verkannt. Der Versuch, seinem Gegenüber die eigenen liberalen Werte aufzuzwingen, konterkariere dagegen diese Dialogfähigkeit.


Haben jene, die diese Position vertreten, recht? Ja und nein. Es stimmt, dass internationale Beziehungen nicht ohne Berücksichtigung der mannigfaltigen (oft antidemokratischen) Interessen gestaltet werden können. Aber bevor der Westen auf die Interessen der anderen eingeht, sollte er bei sich selbst beginnen: Es ist das eigene normative Projekt – etwa das Recht jedes Menschen auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Artikel 3 der UN-Menschenrechtscharta), das in seinem Hauptinteresse liegen sollte. Angesichts dieser Maxime wurden die völkermörderischen Terrorangriffe vom 7. Oktober und die Geiselnahmen zurecht verurteilt. Wird dieser Maßstab auch angelegt, wenn es um die Situation der Zivilbevölkerung in Gaza geht?


Ausgerechnet die für den Holocaust verantwortlichen Länder wie Österreich und Deutschland ‑ aber auch die EU-Spitze - halten sich diesbezüglich auffällig zurück. Problematisiert wird dagegen, dass pro-palästinensische Stimmen im eigenen Land (vor allem im Linksintellektuellen- und Zuwanderermilieu) immer lauter werden und der Nahost-Konflikt eine aufgeladene Stimmung in heimischen Schulen auslöst. Auch jene, die das Vorgehen des israelischen Militärs kritisieren, müssen damit rechnen, als Antisemiten verunglimpft zu werden. Das irritiert vor allem junge Menschen.


Ein Bärendienst für Israel

Mitnichten sind es nur Antisemiten, Antizionisten oder Hamas-Befürworter, die die humanitäre Katastrophe in Gaza als großes Unrecht empfinden. Wenn politische Verantwortungsträger gebetsmühlenartig betonen, die Regierung Netanjahu würde legitimerweise ihrem Verteidigungsrecht nachkommen, widerspricht das dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürger(innen), ganz besonders, wenn deren Herkunftsfamilien aus muslimisch geprägten Ländern stammen. Wahr ist auch, dass letztere häufig mit Israel-feindlichen Narrativen sozialisiert wurden. Aber bevor eine Bevölkerungsgruppe kollektiv verurteilt wird, sollte man zumindest versuchen, die jeweiligen Beweggründe zu verstehen.


Österreichische und deutsche Politiker(innen) können es sich innenpolitisch erlauben, das nicht zu tun. Anders in Frankreich. Emmanuel Macron war gezwungen, zu betonen, dass es bei der Verteidigung der Menschenrechte nicht „zwei Standards“ geben könne und „alle Menschenleben gleichwertig“ seien. Auch mahnte er Israel, im Kampf gegen den Terrorismus die eigenen Grundwerte zu berücksichtigen. Wer erwartet hatte, seine Amtskollegen in Österreich und Deutschland würden ihm beipflichten, der irrte.

Eine Doppelmoral, die weltweit durchaus wahrgenommen wird. Damit erweist man gerade Israel einen Bärendienst. Der Staat ist auf jeden Akteur, der es vermag, Brücken zu bauen, angewiesen. Ebenso die Palästinenser.


Vergangenes Frühjahr hatte Österreichs Kanzler Karl Nehammer Ägyptens Präsident Abdel Fattah El Sisi besucht. Kontakte sind also vorhanden. Sisi weigert sich nach wie vor, den Grenzübergang Rafah für alle Schutzsuchenden aus Gaza zu öffnen. Gibt es eine Möglichkeit, ihn dazu zu bewegen, wenigstens Frauen, Kinder und Alte einreisen zu lassen? Wie könnte man ihm entgegenkommen? Durch eine Bürgschaft? Durch die Aussendung von Sicherheitskräften? Fragen wie diese erfordern Glaubwürdigkeit und Dialogfähigkeit. Beides könnten Österreich wie Deutschland bereits verspielt haben.

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