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Der zwölfte König

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Eure Mutter kann es nichts ja, nicht einmal eure Großmutter kann es. Niemand kann euch diese Geschichte erzählen, denn sie ist zu lang. Sie beginnt in uralten Zeiten und geht noch immer weiter. Darunj, um sie von allen anderen Geschichten zu unterscheiden, nennt man sie auch d i e Geschichte. Eure Mutter und eure Großmutter können euch sagen, wer der Mann ist, der sie erfunden hat. Darum nenne ich ihn nicht. Es ist besser, wenn ihr seinen Namen von eurer Mutter hört als von mir. In dieser Erzählung aber, welche ein Teil der Geschichte ist, werdet ihr ihm unter einem anderen Namen begegnen; unter dem Namen: der zwölfte König, Er kommt nur ganz kurz am Ende der Erzählung vor, wie er auch erst dannerscheinen wird, wenn d i e Geschichte zu Ende ist.

Es lebte einmal ein König, ein wirklicher König, in einem großen, dunklen Palast. Er hatte einen Bart wie eine Wolke und eine Stimme wie der Donner. Wo immer er hinging, lagen die Untertanen im Staub; allerdings, wenn sie es sich einfallen ließen, nicht drin zu liegen, wurden sie hineingeprügelt.

Dieser König hatte auch einen Sohn. Und dieser Sohn hatte einen hohlen Kopf. Sein Kopf war wirklich hohl; es war nichts darin, nichts. Anfänglich war dem Prinzen dieser Umstand unbekannt. Denn erstens konnte er nicht wissen, daß sein Kopf hohl war, weil er hohl war. Zweitens konnte es ihm niemand sagen, weil man von außen nicht sieht, daß ein Kopf hohl ist. Drittens hätte es auch niemand gewagt, weil es nicht gut ist, einem Königssohn die Wahrheit zu sagen, es sei denn, sie wäre angenehm.

An seinem zwanzigsten Geburtstag jedoch türmte er einmal die Treppen hinunter und stieß mit dem Kopf gegen einen Balken, wobei ein heller Klang wie von einem leeren Champagnerglas ertönte. Der Prinz blieb überrascht tehen.

„Nanu“, sagte der Prinz, „sollte mein Haupt, dieses kostbare Staatshaupt, leer sein?“

Er eilte zum Hofarzt.

„Untersuche diesen Kopf“, gebot der Prinz kurz angebunden. Das tat der Arzt, der Weise. Es ist sehr schwierig, die Wahrheit über, einen Königskopf zu sagen, und zugleich den eigenen Kopf zu behalten. Doch der Hofarzt war ein gar weiser Mann. Er klopfte mit seinem silbernen Hämmerchen an den kostbaren Kopf und lauschte dem melodischen Klang aufmerksam.

„Sire“, sprach er strahlend, „ich gratuliere Ihnen, er ist hohl.“

„Wirklich?“ rief der Königssohn, plötzlich erfreut, „ist er wirklich hohl?“

Der Arzt, der Weise, verbeugte sich.

„Es ist ganz ungewöhnlich, Sire“, sprach er, „und welch wunderbarer Klang!“

„Aber“, rief der Königssohn, „wenn mein gestrenger Vater stirbt, muß ich regieren. Wie kann ich mit einem leeren Kopf regieren?“

Da ging der Hofarzt auf Zehenspitzen zur Tür und versperrte sie. Dann näherte er sich dem fürstlichen Ohr, und während seine schlauen Äuglein blitzten, flüsterte er:

„Sie haben einen ausgezeichneten Kopf zum Regieren. Wenn es im Lande einen Zwist gibt, müssen Sie nur folgendermaßen handeln; hören Sie zuerst die eine Partei an, und schicken Sie sie weg.“

„Jawohl“, sagte der Prinz.

„Dann hören Sie die andere Partei an und schicken auch sie weg.“

„Jawohl“, sagte der Prinz.

„Nun“, sprach der Hofrat lächelnd, „das ist alles.“

„Aber“, fragte der Prinz, „welche Partei hat recht?“

Der Hofrat sah sich um und lauschte.

Dann beugte er sich zum Prinzen. „Die stärkere“, sagte er.

Der alte König war tot. Die Glocken läuteten, und es war ein fröhlicher Tag. Mit schwerem Herzen bestieg der junge König den Thron. Er regierte jedoch zur Zufriedenheit fast aller Kreise, und der Ruhm seiner Weisheit verbreitete sich bis über die Grenzen. Das Geheimnis des hohlen Kopfes blieb in diesem Kopf; ihr seht, wie leicht es ist, nichts zu verbergen.

Eines Tages gab der König ein großes Fest. Zwölf lange Tische jjtanden in dem großen Saal, und daran saßen blinkende Herren und funkelnde Damen. Hinter jedem Stuhl stand ein Lakai, der seine Ge- sichtsmuskeln durch jahrelange Schulung so sehr in der Gewalt hatte, daß er vollkommen ausdruckslos aussehen konnte.

Da hob der König einmal zufällig die Augen von seinem Teller und schaute in den Saal, Sein Blick wurde plötzlich streng: in der offenen Flügeltür stand keuchend ein staubiger, schweißbedeckter Mann.

„Heda“, rief der König und winkte mit der Gabel, „was soll das?“

Der Mann bebte.

„Sire“, stammelte er, „die Krisis ist über das Land gekommen.“

„Die was?“ fragte der König.

„Die Krisis, Herr.. .

„Nun“, sagte der König, „das ist sehr unangenehm.“

Er wußte nicht im mindesten, was eine Krisis war, aber er vermutete, daß es etwas Trauriges sei, und darum machte er ein ernstes Gesicht, wie man es von einem König erwarten konnte.

„Ja, ja“, wiederholte der König, „das ist wirklich unangenehm.“

Er ließ sich langsam nieder und rührte in seinem Teller; doch in seinem Herze wuchs eine große Unruhe.

Am nächsten Morgen erwachte der König in seinem seidenen Prunkbett wie alle anderen Leute. Er hob die Augen langsam zum Atlasthronhimmel auf und dachte über die Krisis nach. Wie schade, daß dies jetzt dazwischenkam, er hatte sich so gut gehalten mit seinem hohlen Kopf. Zuerst mußte er einmal zu erfahren trachten, was eine Krisis eigentlich war. Der König kleidete sich rasch an und rief die Weisen des Landes zusammen. Sie kamen. Von einer ehrerbietigen Menge umringt, schritten sie durch die Straßen zum Palast.

Und die Weisen erzählten dept König, was die Krisis sei. Es dauerte drei Stunden, bis sie damit fertig wurden. Dann schwiegen die Weisen. Der König saß zusammengesunken auf seinem Thron, das Gesicht in den Händen verborgen.

„Seid ihr fertig?“ fragte er leise.

„Ja, Sire“, sagten die Weisen.

Sie strichen die Bärte glatt und brachen auf.

Der König blieb auf seinem Thron sitzen. Ganz allein. Das späte Licht fiel zögernd durch die Fenster, dann wurde es dunkel. Einsam saß der König auf seinem Thron, gebeugt und betrübt.

So endete dieser Tag.

Das Land befand sich in Verwirrung. Es mußte eine Lösung gefunden werden. Zuerst wurde ein Befehl erlassen, daß jedermann, der eine Feder zu handhaben verstand, Bücher über die Krisis zu schreiben habe. Und das waren eine ganze Menge. Was darin stand, brauchte nicht genau zu stimmen, wenn die Bücher nur dick und billig waren. Fferner sollten Versammlungen abgehalten werden, viele Versammlungen; es mußten jeweils mindestens zwei Redner sprechen, mit einem Vorwort, einem Nachwort, einem Wort des Dankes und, wenn noch etwas Zeit übrigblieb, einem Wort aufrichtiger Anerkennung.

Tapfer gingen die Untertanen an Werk. Was die Bücher anbelangt, so teilten sich die Bürger in zwei Parteien, welche sich beide redlich mühten diejenigen, weldie sie schrieben, und diejenigen, welche sie lasen.

Aber am meisten Zeit beanspruchten doch die Versammlungen. Abend für Abend gingen die Untertanen geduldig hin, hörten zu, klatschten in die Hände und stellten vernünftige Fragen.

Am härtesten jedoch arbeitete der König. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend tat er nichts anderes, als lesen, was geschrieben wurde. Er lernte, was Geld ist. Wer es hat. Wer es nicht hat. Wer es haben sollte. Er lernte, was Arbeiter sind. Wie sie aussehen. Er lernte die großen Gesetze von Angebot und Nachfrage kennen, und von Preis und Wert. Und langsam füllte sich sein hohler Kopf, er wurde schwerer und schwerer, und eines Tages war er ganz voll.

„Nun“, sprach der König und erhob sich erfreut, „werden wir all diese Kenntnisse anwenden.“

Da flogen Gesetze über das Land. Gute Gesetze verständige Gesetze edle Gesetze. Aber: die Krisis bestand weiter. Im Lande wuchs das Elend.

Des Königs Bart durchzogen graue Fäden nächtelang lag er schlaflos in seinem Seidenbett, mit offenen Augen. Eines Nachts fuhr er plötzlich hoch. Er legte den Zeigefinger an die königliche Nase und lächelte. Seine Augen glänzten. Dann ließ er sich hintenüber gleiten und schlief ruhig ein.

Am nächsten Morgen rasten die Kuriere uf schaumbedeckten Rossen über die Grenzen. Sie bliesen fröhlich auf kupfernen Hörnern oder schnalzten mit der Zunge. Denn das war die Lösung! Zehn mächtige Könige wurden zu einer Versammlung eingeladen, in welcher alles geordnet werden sollte. In allen Ländern hingen die Flaggen aus’ den Fenstern,, und die Menschen strömten hinaus, um den Einzug der Könige mitanzusehen. Da kamen sie an: der König von Baroba, der König von Bonouri, der König vom Lande Sir, der König von Piroga, die Könige von Jerba, Bano und Jaffi, der König von Jap, der König von Bacco und der König vom Lande Tassa. Ich will nur nebenbei erwähnen, daß der König von Rom nicht dabei war. Sein Land war zu klein, und man konnte ohne ihn auskommen.

So nahm denn die berühmte Elfkönigskonferenz ihren Anfang. Nachdem sie sich der jubelnden Menge auf dem Balkon gezeigt hatten, zogen sich die Könige zurück, um zu beratschlagen. Jeder König hatte ein ganzes Heer von Chronisten, Gelehrten und Geheimsekretären bei sich, welche zusammen eine schreibende Masse bildeten, die sich nach und nach in Oberund Hauptkommissionen teilte, diese in Kommissionen, jene in Subkommissionen, welche sich wieder in ratgebende und rechtskundige Körper verzweigten.

Aber so hart auch die elf Könige arbeiteten, so laut auch die Papiere stöhnten, die Krisis bestand weiter.

Das Volk begann heimlich und leise zu murren wie ein gequältes Tier: sie hätten Brot erwartet und bekämen Papier und solcher Reden gab es mehr. Eines Abends versammelten sich die Untertanen schweigend, mit bleichen, entschlossenen Gesichtern unter dem Balkon. Soldaten kamen und jagten sie weg. Doch am nächsten Abend kamen sie wieder, auch die Soldaten kamen — und blieben sie wurden überrannt. Von allen Seiten eilten Menschen herbei, immer mehr Menschen, eine unübersehbare Menge. Sie riefen die Könige. Sie wollten die Könige sehen. Es war ein einziger, gebietender Schrei. Und die elf Könige erschienen auf dem Balkon.

Ein unbeschreibliches Geheul erhob sich. Und die elf Könige standen mit gebeugtem Haupt, elf simple Narren. Sie versuchten zu sprechen, doch man hörte sie nicht. Sie ersuchten um Ruhe, doch man achtete nicht darauf. Da erhob sich eine hohe, wütende Stimme aus der Menge:

„Es gibt noch einen König, der nicht eingeladen wurde.“

Unser König beugte sich über die Balustrade.

„Und wer wäre das?“ fragte er spöttisch.

Einen Augenblick blieb es still.

Dann rief dieselbe Stimme:

„Ihr elf Könige, ihr elf Narren in Purpur, ihr Toren mit Weisheit und Verstand, wer hat euch die Krone aufs Haupt gesetzt, wer euch den Hermelin um die Schultern gelegt?“

Und die elf Könige schwiegen.

Diese eine Stimme hatte gut gesprochen. Machtlos wären wir mit elf Königen, wenn der zwölfte vergessen würde.

Aber, werdet ihr sagen, wurde nicht schon vor zweitausend Jahren an einem Pfingstsonntag von elf Männern in einer Versammlung die Welt gerettet? Und es waren doch nur Fischer, die nichts hatten als ihre schwieligen Hände. Doch sie vergaßen den König nie!

Aus dem Niederländischen übersetzt von A. F. C. Brosens.

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