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Das Mißverständnis

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Der menschlichen Verirrungen sind viele. Man kennt Wadenstecher, Nacktgänger, Mormonen, Frauenfeinde, Wettgeher, Scheibenzerstörer, Frauenrechtler, Alkoholiker, Abstinenzler und Sammler von Streichholzschachtelmarken. Zu den merkwürdigsten Kostgängern des Herrgotts sind aber die Zwanzigjährigen zu rechnen, die sich selbst, aus Gründen, die keiner begreift, als „Literaten“ betrachten. Man erkennt sie an einer etwas fahlen Gesichtsfarbe, einem überschwenglichen Haarwuchs, einem völligen Fehlen des Humors, Halskragens und Oberhemdes und einem übermäßigen Kaffeehausbesuch. Gewöhnlich sind sie ein wenig unwillig gestimmt und äußern sich über die Literaten, die sich rasieren, ihre Haare schneiden lassen und wirklich Bücher schreiben, in einem etwas bitteren Tone. Sie fühlen sich verkannt. Und mit Recht. Denn keiner kennt sie.

Es hat zu Hause schon angefangen. Der Vater begriff sie nicht, die Mutter konnte sich nicht in sie hineinfühlen, die Brüder waren engherzige Krämer, die Nachbarn abscheuliche Spießbürger. Sie aber wollten das Höhere. Sie waren die einzigen in der Straße, die das Höhere wollten. Sie verließen deshalb diese Straße und ließen sich auf einem Dachboden in einer anderen nieder, meistens mit einem Fräulein, das auch das Höhere wollte. Sie tragen einen Woll-schwitzer, stehen spät auf und verbringen den Abend in einem Kaffeehaus.

Kurz, sie sind Literaten geworden.

Im allgemeinen kann man sagen, daß die Unzufriedenen das Salz der Erde sind. Aber Salz beweist seine Brauchbarkeit erst, sobald es in einer anderen Substanz aufgenommen ist. An sich ist es ungenießbar. Und so sind auch diese Menschen, wenn sie bei der reinen Verneinung von dem, was andere Menschen wohl tun, stehen bleiben, ungenießbare und unbrauchbare. Es kann richtig sein, nicht Büroangestellter werden zu wollen, kein Handwerk zu wählen und den zertretenen Pfaden des menschlichen Broterwerbs den Rücken zuwenden. Auch Leonardo da Vinci hat dieses getan. Aber diese Verneinung findet ihre Rechtfertigung erst in der Hingabe an etwas anderes. Was ist dieses andere? Wenn man schon auf diese Frage Antwort erhält, lautet diese ungefähr wie folgt: etwas schaffen, Schönheit machen, Künstler sein. Hat man den Mut, tiefer zu bohren, dann stößt man bei den meisten auf ein Mißverständnis. -Sie meinen, daß das Künstlertum ein Lebensstand sei, in dem man, frei von der menschlichen Gesellschaft und ihren Banden, in froher LIngebundenheit Kunstwerke schaffe. Ja, weiter noch geht der Irrtum: indem sie sich von diesen Banden mit der Gesellschaft befreien, glauben sie, den Bedingungen für das Künstlertum genügt zu haben und schon Künstler zu sein.

Jämmerlicher Irrtum! Wenn einer auf die Gesellschaft angewiesen ist, so ist es e b e n — der Künstler. Lind dieses in doppelter Hinsicht: sachlich, weil er von seinen Mitmenschen seinen Auftrag erhalten muß, geistig, weil er seine Erfahrungen aus der Menschenwelt schöpfen muß. Ohne innige Berührung mit der Welt, worin er lebt, ist ein Schriftsteller nur ein romantischer Kauz, eine Pflanze, deren Wurzeln sich im Luftleeren verzweigen.

Es ist möglich, daß ein älterer Schriftsteller, der schon einige Jahrzehnte Menschenerfahrung hinter sich hat, sich zurückzieht und in Einsamkeit seine Bücher aufzubauen anfängt. Abgesehen von den Gefahren, die auch diesen älteren in dieser Abgeschiedenheit bedrohen, kann ein Jugendlicher sich eine derartige Haltung nicht ohne Schaden erlauben. Worüber doch würde er schreiben müssen? Was hat er mitgemacht? Die Konflikte seiner Pubertät, einige Begegnungen, einige Erlebnisse. Mehr nicht. Ist dieses genügend Oel, um seine Lampe brennend zu erhalten, um Licht zu verbreiten, ja Wärme zu spenden? Nein. Der logische Gedankengang lehrt es, die Erfahrung bestätigt es. Was ist also das erst Nötige? Lebenserfahrung.

Wie bekommen wir diese? Indem man sich, wie jeder andere, in eine normale Beziehung zum Leben stellt. Ich komme also zu dem einigermaßen paradoxen Schluß, daß, wer sich zu einem Künstler, entwickeln will, anfangen muß, sich als ein gewöhnlicher Mensch zum Leben zu verhalten. Wer den Ehrgeiz hat, zum Beispiel Schriftsteller zu werden, muß die Demut besitzen, als alles anzufangen, nur nicht als — Schriftsteller. Schlage bloß dein Konversationslexikon auf und suche den Namen des ersten Schriftstellers, der dir einfällt: du wirst finden, daß er gewöhnlich nicht als Schriftsteller angefangen hat. Es war ein Arbeiter, ein Soldat, ein Berichterstatter, ein Lehrer, ein Bauer, ein Bäcker, ein Beamter oder ein Priester. Sie alle haben jahrelang diesen stillen, unauffälligen und — bürgerlichen Posten bekleidet, den unser jugendlicher Literat um ieden Preis vermeiden will.

War nun die Zeit, die sie darin verbrachten, verloren und vertan? Eben im Gegenteil. Es ist bemerkenswert, daß fast alle Schriftsteller ihr ganzes Leben lang eben aus der Erfahrung schöpfen, die sie sich in dieser Zeit erworben haben. Der Zeitabschnitt, in dem ein Schriftsteller nicht bekannt ist, ja selbst noch gar nicht schreibt, und stärker: der Gedanke an diese Tätigkeit sogar nicht bei ihm aufgekommen ist, das ist seine kostbarste Zeit.

Sobald man „Schriftsteller“ ist, ist es um seine Unbekümmertheit geschehen. Der Blick ruht nicht mehr gedankenlos auf der Welt, man irrt nicht mehr verträumt durch die Straßen des Lebens, die Dinge fallen nicht mehr durch die Augen in die Seele, aber man beobachtet, man schaut, und das ist nicht die Weise, die Dinge zu sehen. Um wahrlich zu sehen ist eine gewisse Gedankenlosigkeit nötig. Die Bilder aus den Kinderjahren sind darum am schärfsten, weil der Blick damals ohne Eigennutz war. Und darum ist auch für denjenigen, der sich einen Künstler weiß oder glaubt, die Stellung des unauffälligen Bürgers der beste Beobachtungsposten für das Leben.

Es gibt eine merkwürdige Stelle in der Selbstbiographie Dickens' (David Copperfield), in der diese Art „sehen“ ohne zu „schauen“ kurz gestreift wird. Man findet jene in Kapitel 11, wo der zehnjährige Dickens bei einem gewissen Kapitän Flopkins für den unsterblichen Micawber ein Messer und eine Gabel leiht. In dessen Zelle sieht er „eine schlampige Dame und zwei fahl aussehende Mädchen“ — seine Töchter — mit Spinnenkopfhaaren. Ich konnte nicht umhin, zu denken, daß es besser sei, Kapitän Hopkins' Messer und Gabel zu leihen als Kapitän Hopkins' Kamm. Der Kapitän selber befand sich in dem letzten Stadium menschlichen Verfalls, er hatte lange Backenbärte und einen alten, braunen Mantel an, ohne irgendeine Bekleidung darunter. Ich sah seine Matratze, die aufgerollt in einer Ecke lag. Ich sah auch einige Zinnteller und einen Blumentopf auf einem Brett. Und ich riet (aber Gott weiß wie), daß, wiewohl die zwei Mädchen mit den Spinnenkopfhaaren Kapitän Hopkins' Töchter seien, die schlampige Dame nicht mit Kapitän Hopkins verheiratet sei. Mein verlegenes Verweilen auf ihrer Schwelle hatte höchstens zwei Minuten gedauert; aber ich nahm all diese Kenntnisse mit mir, genau so gewiß wie das Messer und die Gabel, die ich in meiner Hand hielt.

Aus Forsters „Life of Dickens“ wissen wir, daß dieses photographische Moment tatsächlich eine „Aufnahme nach dem Leben“ war. Dennoch hat der kleine Junge da auf der Schwelle einen Augenblick verträumt dagestanden. Er wußte nicht, daß er schaute. Und eben darum sah er mit visionärer Schärfe.

Durch die bestürzenden Möglichkeiten zur Veröffentlichung, die die vielen literarischen Wochen- und Monatsschriften unseren jungen Talenten bieten, ist die Aussicht auf diese Art unbekümmerten Sehens wesentlich verkleinert. Man zieht Blumen “aus Gewächsen, die erst knospen und deren Wachstum sich i n U n-bewußtheit vollziehen muß. Da läßt sich, nichts machen. Aber dem jugendlichen Kopf, der sich auflehnt und sich überlegt, „auszureißen“ und sich jetzt vielleicht über diese Zeilen beugt, möchte ich dieses sagen: grabe im Leben, wo du stehst, denn wo du stehst, da i s t das Leben. Es ist nicht anderswo. Lebe in Frieden mit deiner Umwelt, ohne Verbitterung. Deine Umwelt ist die Erde, in die dein kleiner Samen aus Gottes Hand gefallen ist. Da mußt du wachsen, groß werden und blühen. Forciere diese Blüte nicht, indem du an die Früchte denkst. Versuche möglichst ganz zu sein, was du bist. Dann erst wirst du vollkommen werden, was du jetzt so sehr begehrst. Liebe die Menschen und die Dinge. Beobachte sie nicht. Wenn du je Schriftsteller wirst, wisse denn, daß die Zeit, worin du jetzt lebst, deine kostbarste ist. Später wirst du berühmt oder verkannt sein. Keins von beiden ist das Leben. Das Leben ist jetzt, da du weder das eine noch das andere, sondern du selbst bist.

Auf dem Niederländischen ubersetzt von A. F. C. Brosens

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