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Die größte Kirche von Paris, die Notre- Dame, und die kleinste, Saint Julien des Pauvres, liegen nahe beieinander. Wenn man eines Sonntags in der winzig kleinen Kirche von Saint Julien atemlos lauscht, hört man in der Ferne die Orgel der Notre-Dame donnern. Lauscht man noch aufmerksamer, dann hört man tausende Vögelchen zwitschern. Zwischen den beiden Kirchen liegt nämlich der Vogelmarkt von Paris.

Es ist ein kleiner, von alten Ulmen überschatteter Platz, wo man Sonntags von morgens sieben Uhr bis abends halb Zehn ein Vögelchen kaufen kann, in der Farbe und von der Größe, die du nur wünscht. Findest du es nicht einen netten Gedanken von den Parisern, daß sie ihren Vogelmarkt eben zwischen zwei Kirchen abhalten? Denn Vögel sind die unschuldigsten Geschöpfe, die der Schöpfer hat ersinnen können. Sie beißen nicht, sie lauern nicht, sie kratzen und schlagen nicht. Sie singen nur und hüpfen, springen, dribbeln und trippeln nur so auf und ab. Sie girren und gurren, trillern und turteln, piepen und singen den lieben, langen Tag und sehen dabei mit den runden Augen unendlich erstaunt umher, als fragten sie selber nach dem Grunde ihres Daseins. Ich habe mich denn auch immer gewundert, warum der heilige Franziskus eigentlich vor den Vögeln predigte. Ich glaube, daß er dies getan habe, den späteren Malern von Kirchenfenstern einen Gefallen zu erweisen, und daß die ganze Predigt, streng genommen, nichts anderes gewesen sei als ein Schwatz aus dem Stegreif, mit musikalischem Rahmen der Zuhörer selbst.

Der merkwürdigste Vogel des ganzen Marktes ist ein grüner Papagei mit grellrotem Kopf, der’ einem ärgerlich aussehenden Frauchen zugehört, das sich weigert, ihn zu verkaufen, doch wohl bereit ist, ihn für den Preis von drei Franken zeigen zu lassen, was er kann. Sie tut dies auf eine mürrische Weise, als denke sie in ihrem Herzen, daß es eigentlich bei dir nioht wohl angewandt sei. Der Kunststücke sind drei an der Zahl. Beim ersten-stellt das Tier sich auf den Kopf, die Füße in die Höhe. Bist du aus dem Staunen herausgekommen, dann folgt das zweite: Das Tier macht drei Verbeugungen und sagt „Merci“. Dies ist ein Dank für jeden der drei Franken einzeln. Schließlich folgt die dritte Probe: Der Vogel reckt ich stolz empor und schreit aus vollem Halse: „Napoleon Bonaparte! Vive l’empereur!“ Sieh, der letzte Bonapartist, den Frankreich noch hat. Er tut dies jedoch nur, wenn man ihm einen Zuckerwürfel hinhält. Ich war hierdurch einen Augenblick enttäuscht, doch bei einigem Nachdenken sah ich ein, daß das Tier dieses mit den meisten Anhängern politischer Parteien gemein habe. Wieviel Vögelchen gab es wohl? Mein Freund, der Polizist auf diesem Marktplatz ist und im Laufe der Jahre zu einem großen Vogelkenner auswuchs, schätzte die Zahl auf gut Hunderttausend. Ihr Wert steigt von einem einfachen grauen Hüpftierchen zu 20 Franken, die dutzendweise nebeneinander auf Holzstöckchen sitzen, zu 1200 Franken für einen bunt gefärbten Zauberball, der gesondert in einem kleinen Käfig sitzt und durchaus nichts sagt. Sehr schweigsam sind auch die Nachtigallen. Sie bewegen sich nicht einmal. Den Kopf schräg zur Seite, schauen sie trübe auf den Preis, den man an ihrem rechten Fuß befestigt hat und sinnen über die dunklen Wälder, wo sie herkommen und wo sie unzählige mittelmäßige Dichter zu unzähligen mittelmäßigen Gedichten inspiriert haben. Vielleicht denken sie wohl an diese Gedichte und sind darum so niedergeschlagen. Vielleicht auch achten sie sich zu niedrig gepreist. Aber der eigentliche Grund ihrer Betrübnis ist wahrscheinlich dieser: daß sie Nachtigallen sind. Denn wer eine Nachtigall ist, der soll in der Dämmerung auf einem Zweig sitzen, hinter einer Bank, wo zwei Geliebte sich umschlungen halten und schweigend dem zarten, doch allmählich schwellenden Lied lauschen, das hinter ihrem Rücken anfängt. Eines Sonntagmorgens in der strahlenden Sonne, einen Preis von 600 Franken an dem rechten Fuß, fühlt man sich dann ein wenig aus dem Feld geschlagen.

Doch übrigens, welch ein Gezwitscher auf diesem Marktplatz! Und das merkwürdigste dabei ist, daß das feine Orgeln aus diesen tausenden Vogelkehlchen nicht zu einem riesenhaften Piep anschwillt, wie das Rufen von tausenden Menschen zu einem Schrei auswächst, sondern daß es ein äußerst nuanciertes Klingeln und Bimmeln bleibt, in dem jede kleine Vogelstimme seinen eigenen Platz und Wert behält. Keines dieser kleinen Tiere verliert seine Persönlichkeit und löst seine Individualität in der drohenden Erscheinung auf, die man Masse nennt.

Und nun will ich dir noch eine Entdeckung über diesen Pariser Vogelmarkt mitteilen, eine Entdeckung, die dir vielleicht nicht wichtig vorkommt, aber die mich persönlich in einen Ozean von Betrachtungen gestürzt hat. Es ist diese: daß da, zwischen den kostbaren kupfernen und sorgfältig vergitterten Käfigen über die Straßensteine eine Anzahl grauer, unansehnlicher Vögelchen herumhüpft, die man „Spatzen“ nennt. Sie haben keinen Preis an ihrem rechten Fuße. Sie sind nicht, wie ihre seltenen, tropischen Brüder und Schwestern orangegelb und indigoblau. Sie können nicht singen und sie rufen nicht „vive l’empereur!“. Aber als ich in die Hände klatschte und sie in einer wirbelnden Wolke in die Höhe stoben, entdeckte ich das einzige, das sie wohl besaßen: Freiheit. Und während ich ihnen hoch am blauen Himmel nachschaute, dachte ich an das Wort des Evangeliums: „Selig die Demütigen, denn sie werden erhoben werden.“ Aur dem Niederländischen übersetzt von A.F.C. B r o s e a l

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