6672623-1961_06_09.jpg
Digital In Arbeit

DER KOLIBRI

Werbung
Werbung
Werbung

Manchmal ist das Persönliche, das Individuelle stärker als der Instinkt — in der Kreatur, meine ich, nicht im Menschen. Denn vom Menschen wird ja vorausgesetzt, daß er seine Instinkte beherrscht — aber ob das tatsächlich der Fall ist, mögen andere beurteilen. Jedenfalls: der Urinstinkt der meisten — oder aller — Geschöpfe ist, am Leben zu bleiben. Jedes Lebewesen hat eine instinktive Verteidigungstechnik gegen andere Lebewesen und gegen das Wetter. Was mit Kolibris eigentlich geschieht, habe ich nie herausgefunden — weder aus eigener Beobachtung noch aus Büchern. Sie sterben natürlich und irgendwie müssen sie also auch geboren werden, obwohl ich nie ein Kolibriei gesehen habe oder ein Kolibrijunges. Der erwachsene Kolibri ist so klein, daß das Ei etwas ganz Zauberhaftes sein muß, wahrscheinlich eine der zärtlichsten Winzigkeiten, die es überhaupt gibt. Freilich, falls Kolibris nicht mittels Eierchen, sondern irgendwie anders zur Welt kommen sollten, bitte ich den Leser um Verzeihung.

Das einzige, was ich über Agassiz, den großen amerikanischen Naturforscher, weiß, ist, daß er einmal Schildkröteneier studierte, und es mußten frische sein, denn sonst hätte er nicht das herausfinden können, was er herausfinden wollte. Daraus wurde in Boston ein aufregendes Abenteuer für einen jungen Menschen, der darüber schrieb, und sechs oder sieben Jahre später las ich es; damals war ich vierzehn. Vierzehn Jahre alt war ich 1922 — Sie sehen daraus, wie unwichtig Jahre werden, wenn man über Eier aller Arten redet. Ich beneide Leute, deren Beruf es ist, Vögel zu studieren; und eines Tages hoffe ich, alles über Kolibris zu erfahren, was über sie bekannt ist. Vom Hörensagen weiß ich, daß der Kolibri unglaubliche Entfernungen mit unglaublich geringer Kraft zurücklegt — was trägt ihn also? Nur der Geist? Aber das Schönste, was ich von Kolibris weiß, sind die Dinge, die ich selber beobachtet habe: daß sie da sind tvenn dieįSfihė;'ETnsit''rhaėht',1:W0ift,4die Blüten šibfi*'öffnen 'üh'd alles voll von ihrem Duft ist. Es vergeht kaum einer jener mäkellös sthötieirTa;!'ohfte 'ähß tthWeinen Kolihfi sieht,'ein kleines Wunder, das in einem Lichtstrahl hängt oder über einer großen Blüte schwebt oder über einem Büschel kleiner Blumen. Oder in fröhlichem Wahnsinn kreisend und dann pfeilgerade nach oben schießend, ins Nichts, ohne jeden Grund, oder nur aus dem eitlen Grunde, daß lebendig zu sein unerträglich schön ist. Wie können solche Geschöpfe — zart und herrlich und wahnsinnig — überhaupt Zeit finden für die Routinearbeit der Zeugung? Oder für Instinkthandlungen der Selbstverteidigung? Wie das auch sein mag — wann immer Gottes Gnade uns so einen schönen Tag beschert, dann sind auch die Kolibris dabei.

Aber was ich sagen wollte; es scheint, daß manchmal der Instinkt versagt, in einer Gattung oder einer Spezies oder wie immer man das nennt. Ich kenne mich nicht mit den Ausdrücken aus. Also jedenfalls, wenn alle, die zu einer solchen Gattung Lebewesen gehören, kehrtmachen und irgendwo hingehen, um am Leben zu bleiben, um der Kälte zu entrinnen, oder was sonst der Grund sein mag, dann geschieht es manchmal, daß einer von ihnen nicht mitgeht. Warum er nicht mitgeht, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil er exzentrisch ist, oder vielleicht sind auch erhabene Gründe dafür da — eine spezielle anstatt einer allgemeinen Leidenschaft für eine Gefährtin seiner Art — die vielleicht gestorben ist — oder für einen Ort. Oder es kann sogar reine. Dummheit sein, oder auch bloß Eigensinn. Es gab einmal einen Kolibri, der im Winter nicht fortflog — sondern dabliėb, in Fresno, Kalifornien.

Von ihm will ich erzählen.

Uns gegenüber lebte der alte Dikran. Er war fast blind, mehr als achtzig Jahre alt, und seine Frau war nur wenige Jahre jünger. Ihr Häuschen war innen wie ein Schmuckkästchen und außen ganz gewöhnlich — bis auf den Garten. Dikrans Garten hatte auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen. Stauden, Sträucher, Astwerk, Bäume — alles wuchs stark aus der süßen schwarzen Erde, die der alte Dikrąn betreute. Alle Geschöpfe des Himmels liebten diesen Winkel in unserem armseligen Viertel, und der alte Dikran liebte sie.

An einem bitterkalten Sonntag, mitten im tödlichen Winter, kam ich von der Sonntagsschule nach Hause und sah in der Mitte der Straße den alten Dikran stehen. Er versuchte herauszufinden, was er da eigentlich in der Hand hielt. Anstatt ins Haus zum warmen Ofen zu gehen, wie ich eigentlich wollte, blieb ich auf den Stufen der Veranda stehen und sah dem alten Mann zu. Er drehte sich um und schaute zu seinen Bäumen hinauf und dann wieder auf das Ding in seiner Hand.

Er stand mindestens zwei Minuten so da, und dann kam er auf mich zu. Er streckte mir die Hand hin und fragte: „Was ist das, was ich da habe?“

Ich sah es an.

„Ein Kolibri“, sagte ich.

„Was ist das?“ fragte der alte i ran.

„Das Vögelchen“, sagte ich. „Der kleine Vogel, Sie wissen schon. Der im Sommer kommt und ganz still in der Luft steht und dann wegschießt. Mit den Flügeln, die so schnell flattern, daß man sie gar nicht sieht. Sie haben ihn in der Hand. Er wird sterben."

..Komm mit“, sagte der alte Mann. „Ich kann nicht sehen, und Mutter ist in der Kirche. Sein Herz schlägt, ich kann es fühlen. Ist er schlimm dran? Schau ihn noch einmal an.“

Ich schaute ihn noch einmal an. Es war wirklich ein trauriger Anblick. Dieses wunderbare kleine Geschöpf des Sommers in der großen schwieligen Hand des alten Bauern; dieses Geschöpf, dem ich immer nahe kommen wollte, um es ganz von der Nähe aus zu sehen, um ihm ein bißchen verwandter zu sein. Hier war es, in der Kälte des Winters, vollkommen hilflos und rührend, nicht in einem Bündel von Sonnenlicht, nicht das lebendigste aller Wesen der Erde, sondern das wehrloseste und herzzer- brechendste.

„Es stirbt", sagte ich.

Der Alte hob die Hand zum Mund und blies den warmen Atem auf das kleine Ding in seiner Hand, das er nicht einmal sehen konnte.

„Bleib da“, sagte er. „Nicht mehr lang, und es ist Sommer. Bleib da, du Schönes, Schnelles.“

Wir gingen zusammen in die Küche dieses kleinen Hauses, und während er den Vogel warm anatmete, gab er mir Anweisungen.

„Wärme einen Löffel Honig über der Gasflamme und gieß ihn mir auf die Hand, aber gibt acht, daß er nicht zu heiß wird.“

Das geschah.

„Ißt er?" fragte der altö Mann.

Nach. einigen Sekunden zeigte der Kolibri Spuren neuen Lebens. Die Wärme des Zimmers und der aufsteigende Duft des warmen Honigs — und, ja, die Willenskraft und die Liebe des alten Mannes. Der konnte bald in seiner Hand die Veränderung spülen und ein paar Sekunden später begann der Kolibri kleine Schlückchen Honigs zu nehmen.

„Er wird am Leben bleiben", verkündete der alte Mann nun. „Bleib da und schau zu.“

Die Verwandlung war unglaublich. Der alte Mann hielt seine Hand weit offen, und ich wartete jeden Augenblick darauf, daß der hilflose Vogel aus seiner Hand in die Luft schießen und im Raume schweben und mich zu Tode erschrecken würde — und genau das geschah auch. Das neue Leben des kleinen Vogels war wunderbar. Er wirbelte in der winzigen Küche herum, flog zum Fenster, kam zurück zur Wärme, schwebte still, drehte sich wie ein-wahnsinniger Kreisel, ganz als ob es Sommer wäre und er sich niemals wohler gefühlt hätte.

Der alte Mann saß auf seinem Küchenstuhl, blind, aber sehr aufmerksam. Er horchte auf jeden Laut und versuchte zu sehen, aber er konnte es natürlich nicht. Er stellte immer wieder neue Fragen über den Vogel: wie ihm zumute sei, ob ihn nicht etwa die Kräfte wieder verließen, ob er ruhelos scheine oder nicht; und ich mußte ihm den Vogel immer wieder beschreiben.

Als der Vogel rastlos zu werden begann und fortfliegen wollte, sagte der Alte:

„Mach das Fenster auf und laß ihn hinaus.“

„Wird er's überleben?“ fragte ich.

„Er ist jetzt lebendig und er will hinaus“, antwortete er. „Geh und mach das Fenster auf.“

Ich öffnete das Fenster, der Kolibri flog unentschlossen dahin und dorthin, denn er spürte die Kälte, die von draußen kam — dann schwebte er eine Weile im Fensterraum, wendete sich nach links und nach rechts — und dann war er fort.

„Mach das Fenster zu“, sagte der alte Mann.

Wir redeten noch ein paar Minuten, dann ging ich nach Hause.

Der alte Mann behauptete, daß der Kolibri den Winter überlebte, aber ich erfuhr nie etwas Bestimmtes darüber. Als es Sommer wurde, sah ich viele Kolibris, aber ich konnte sie nicht voneinander unterscheiden.

An einem Sommertag fragte ich den Alten wieder: „Ist es am Leben geblieben?“

„Das Vögelchen?“ sagte er.

„Ja“, sagte ich. „Das von uns den Honig bekam. Sie erinnern sich, nicht? Das kleine Tierchen, das im Winter am Sterben war. Ist es am Leben geblieben?“

„Schau dich um“, sagte der alte Mann. „Kannst du es sehen? Jedes von ihnen ist unser Vögelchen. Jedes — jedes von ihnen."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung