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Zwei Verräter, deren Motive man nur zu gut versteht

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Die Brutalität, mit der bereits Lenin jede eigene Meinung erstickte, war nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr Thema der Li -teratur. Im Vordergrund stand Stalins Terror gegen Lenins alte Genossen, gegen „Trotzkisten” und andere brave Kommunisten. Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis” zum Beispiel handelt davon. Die Leiden der anderen, der dem Zaren Getreuen, der Demokraten, welche die Februarrevolution getragen und den Zaren entmachtet hatten, der „Kulaken”, der weißen Offiziere, wurden ausgeblendet. Den Lesern Ferdinand Ossendo-wskis, der eine Flucht in die Taiga schildert und dessen „Tiere, Menschen und Götre hießen) zum Überlaufen veranlaßt, dasselbe: Die Familie. Was schon recht aufschlußreich ist. Aber verglichen mit Solschenizyns Bürgerkriegs-Story schildert Perutz geradezu eine Idylle: Der Chef der Geheimpolizei Dscherschynski gibt dem zaristischen Offizier Woloschyn, der die Zusammenarbeit verweigert und erschossen werden soll, Urlaub, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Der polnische Adelige Dscherschynski verläßt sich auf den Ehrbegriff des zaristischen Offiziers und rechnet fest mit dessen Bückkehr. Woloschyn kommt auch wieder. Durch ein Gerücht fest überzeugt von der Untreue seiner Frau, hatte er mit dem Leben abgeschlossen und wollte wirklich nur Abschied nehmen - um zu erfahren, daß sie treu war. Woter” ein Bestseller der zwanziger Jahre war und Hugo von Hofmannsthal zum Stück „Der Turm” anregte, war das alles noch präsent. Auch für die Leser eines späteren Bestsellers, „Are de Triomphe” von Erich Maria Bemarque, war der verarmte russische Emigrant und Türsteher vor dem Nachtlokal „Scheherazade” noch eine selbstverständliche, positive Figur.

Alexander Solschenizyn brachte jene Opfer, die keine innerparteilichen Oppositionellen, keine echten oder vermeintlichen Trotzkisten gewesen waren, in die Literatur zurück. Unter diesem Gesichtspunkt ist „Ek-tow, der Philanthrop” noch interessanter als die Erzählung „Heldenleben”, die seinem jüngsten Buch den Titel gab und das Leben des Marschalls Schukow etwas anders als üblich erzählt. Aber auch die Erzählung „Herr, erbarme dich meiner” von Leo Perutz, die 1929 in vier Fortsetzungen in der Vossischen Zeitimg erschien, liegt erfreulicherweise als Titelgeschichte eines weiteren Bandes der Werke von Leo Perutz bei Zsolnay wieder vor.

In beiden Fällen ist das Motiv, das „Weiße” (wie die Konterrevolutionärauf er zwar sein Wort hält, aber überläuft.

Vier Stunden gibt ihm Dscherschynski zur Ent-mfmmmmfmm”””” Schlüsselung eines Funkspruchs der Weißen - zehn Minuten vor Ablauf der Frist springt Woloschyn auf „und hebt die Arme und schreit, schreit in Verzweiflung und Todesnot zu dem großen Gott des rechtgläubigen Rußlands, er schreit so laut, daß man es durch die geschlossenen Türen hört: ,Gospody pomiluj!' Und dann geschieht etwas Sonderbares. Er bleibt stehen, legt die Hand an die Stirn und holt tief Atem. ,Gospo-dy pomiluj! - Herr, erbarme dich mei -ner!' - Aber das ist - das ist ja einer von den zaristischen Chiffrenschlüsseln, und an den hat er nicht gedacht.” Er ist gerettet, Dscherschynski stirbt ein paar Jahre später an einem Herzanfall, Woloschyn aber „arbeitet in irgendeinem Moskauer Volkskommissariat. Wie er wirklich heißt, das hat man dort längst vergessen.” Er ist nur „der Genosse Herr, erbarme dich meiner!” Und wenn ihn Stalin nicht hat erschießen lassen, lebt er noch heute.

Die Geschichte von Leo Perutz illustriert den westlichen Kenntnisstand über die Verhältnisse in der Sowjetunion des Jahres 1929, Jahre vor den Schauprozessen und vor den Massenerschießungen von Offizieren, die Stalin für Anhänger des Marschalls Tuchatschewski hielt. Solschenizyn weiß nicht nur mehr, er hat auch viele Jahre Lager hinter sich. Er konfrontiert den Leser mit der Realität des Bürgerkrieges der Zeit zwischen 1918 und 1921, der an Grausamkeit den Kriegen in Bosnien und Tschetschenien um nichts nachsteht:

„Die verschreckten Menschen sind weder für die Sowjetmacht noch für die Partisanen, sie wollen nur eins, endlich in Frieden gelassen werden. In der Politschulung wird gelehrt: ,Beizt die Bevölkerung nicht unnötig.' Aber auch: ,Sperrt die Ohren auf! Beim kleinsten Wörtchen mit dem Gewehrkolben in die Schnauze.' Bei den Botarmisten machte sich gefährlicher Unwille breit, mit der Waffe gegen die Bauern vorzugehen. (Wir sind selbst Bauern, wozu sollen wir auf die eigenen Leute schießen?) Und die Banditen verstreuten zudem noch Flugblätter: ,Ihr seid die Banditen, wir sind nicht bei euch eingedrungen, verschwindet aus unseren Dörfern, wir können ohne euch leben.'...

Die Befehle aus dem Tambower Stab an die Regimenter waren niemals exakt militärisch. Oft blieb unklar, wo Aufklärungsgelände und wo Kampfgebiet war. Es hieß immer nur: ,Angreifen und vernichten!' Oder ,Einkreisen und liquidieren!' ,Ohne Rücksicht auf

Verluste!'... Vom Stab in Tambow- kam der Refehl: ,Alle Operationen sind mit Härte zu führen. Nur Härte erzeugt Respekt.' Die aufständischen Dörfer wurden restlos niedergebrannt. Nur Asche und die Rümpfe der russischen Öfen blieben übrig ... Schubin ließ eine große Grube ausheben. Die Todeskandidaten mußten sich, Gesicht zur Grube, Hände auf dem Rücken gefesselt, an den Grubenrand setzen. Schubin und seine Helfer gingen an ihnen entlang. Genickschuß. Wie sollte man auch anders mit denen umgehen?”

Ektow, der Philanthrop, der revolutionäre Demokrat, schlägt sich auf die Seite der aufständischen Bauern. Wird einer ihrer Führer. Wird gefangen, nach Moskau gebracht, in Einzelhaft gehalten, „bisher hatten sie nicht herausgefunden, wer er war, die Familie war also noch in Sicherheit. Ihn selbst sollten sie ruhig erschießen.” Sobald sie wissen, wer er ist, ist er wehrlos: „Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten wollen, dann überlassen wir Ihre Polina den Magyaren und den TschON-Leu-ten, und das vor Ihren eigenen Augen. Und das Mädelchen stecken wir in ein Waisenhaus. Und nach diesem Schauspiel Ihnen die Kugel ins Genick - das ist noch zu wenig, unser Fehler. Eisiger Druck auf der Brust. Ist denen denn nichts unmöglich?”

Um seiner selbst willen wird einer in diesem Bürgerkrieg nicht ohne weiteres zum Verräter. Aber wenn sie die Familie in der Hand haben ... Ektow wird gezwungen, eine Einheit der Sowjetmacht, als Trupp der Aufständischen verkleidet, zu diesen zu führen. Er erlebt das Blutbad. „Träfe es doch auch ihn, jetzt gleich, egal wie.”

Der Bürgerkrieg verzahnt die beiden Erzählungen Solschenizyns. Der Bürgerkrieg hat auch den späteren Marschall Schukow geprägt. Seine Karriere, seine Kaltstellung werden mit eisiger Genauigkeit geschildert, wenn auch nicht immer in Übereinstimmung mit dem, was man im Westen darüber weiß. Die Geschichte aus dem Bürgerkriegs ist glaubwürdig in all ihren psychologischen und historischen Details.

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