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Ohne Stadtplan mit 1000 S

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Jährlich emigrieren etwa 30.000 Menschen aus der Sowjetunion. Die meisten von ihnen betreten in Wien zum erstenmal westlichen Boden. Der größte Teil der Emigranten wird vom Flughafen direkt ins jüdische Lager-Schönau gebracht, wo sie, von Maschinengewehrposten und scharf dressierten Schäferhunden bewacht, nur ein bis zwei Tage verbringen und sobald wie möglich nach Israel weitertransportiert werden.

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Jährlich emigrieren etwa 30.000 Menschen aus der Sowjetunion. Die meisten von ihnen betreten in Wien zum erstenmal westlichen Boden. Der größte Teil der Emigranten wird vom Flughafen direkt ins jüdische Lager-Schönau gebracht, wo sie, von Maschinengewehrposten und scharf dressierten Schäferhunden bewacht, nur ein bis zwei Tage verbringen und sobald wie möglich nach Israel weitertransportiert werden.

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Ein paar Emigranten bleiben längere Zeit in Wien — sie warten hier auf das Visum nach den USA oder in ein anderes Land, in dem sie Verwandte oder Freunde haben. Betreut werden sie von Flüchtlingsorganisationen, die ihnen 1000 Schilling im Monat in die Hand drücken und sie in finsteren Hinterzimmern irgendwelcher obskurer Pensionen unterbringen. - Manche von diesen Leuten sind Juden, interessieren sich jedoch wenig für den jüdischen Staat und seine Probleme. Andere sind Russen, die eine fiktive Ehe mit einer Jüdin geschlossen haben und so die Ausreise bewilligt erhielten.

Die Frage der Ausreise war für sie, wie auch für die Israelauswanderer, die entscheidende Frage ihres Lebens. Ein Auswanderer läßt in Rußland seine Familie und Freunde, seine qualifizierte Tätigkeit, die gewohnte und bekannte Umgebung sprachlicher, sozialer, klimatischer und geographischer Natur zurück. Mit der Ausreise werden plötzlich die meisten Beziehungen zur Umwelt abgeschnitten. Zermürbt und erschöpft von den physischen und psychischen Strapazen der Ausreiseprozedur kommt der Emigrant in Wien an, einer Stadt, in der er nichts versteht und sich nicht verständlich machen kann. Kaum einer von ihnen kann deutsch, über ein paar Brocken Englisch reichen die Sprachkenntnisse meist nicht hinaus.

Die prinzipielle Entscheidung zur Emigration hat bei ihnen eine kategorische, bis in kleinste Details gehende Ablehnung der in der Sowjetunion herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgerufen. Die Hauptpunkte dieser Ablehnung sind etwa folgende: freie Meinungsäußerung ist in der Sowjetunion unmöglich, persönliche Initiative wird unterdrückt, man verdient viel zuwenig, es gibt nichts zu kaufen, nichts funktioniert ordentlich, das Leben ist grau und eintönig, und außerdem darf man nicht reisen. Durch die Brille dieser Vorstellungen sehen sie Wien und den Westen: hier herrscht Informationsfreiheit, jeder kann sein Leben selbst gestalten, das Durchschnittseinkommen ist viel höher als in Rußland, man bekommt alles zu kaufen, alles funktioniert schnell und gut. Besonders auffällig für den Emigranten ist die Farbigkeit des westlichen Lebens: das überreiche bunte Warenangebot in den vielen Geschäften, die Reklameplakate überall in den Straßen, die verschiedenfarbigen blitzenden Autos, die bunte und ausgefallene Kleidung der jungen Leute. Ein Spaziergang über die Mariahil-ferstraße ist für einen frisch angekommenen Emigranten ein richtiges Fest. Die Faszination des Warenangebot? hält bei den meisten Emigranten recht lange an, zumindest ein paar Monate.

Mit wem kommt ein Emigrant zuallererst zusammen, wenn er in Wien eintrifft? Mit anderen Emigranten. Man erzählt sich gegenseitig die langwierigen, mühseligen Vorbereitungen zur Abreise, findet gemeinsame Bekannte heraus, schließt rasch Freundschaft und beginnt Pläne für die Zukunft zu schmieden. Die Emigranten merken gar nicht, wie eng sie mit der verlorenen Heimat verbunden sind. Fast jeden Tag wird mit Moskau telephoniert, stundenlang werden Briefe geschrieben, die, wie sich dann am Telephon herausstellt, oft nicht ankommen. Einige Emigranten haben sich offiziell von ihren Frauen scheiden lassen. Sie wollen sich zuerst im Westen eine Existenz aufbauen und dann Frau und Kind nachkommen lassen. In Moskau haben sie gehört, daß man jüdische Ehen auch per Telephon aus dem Ausland schließen kann. Hier erfahren sie, daß eine solche Ehe zwar vom jüdischen Recht, nicht aber vom sowjetischen anerkannt wird. Übrig bleibt wieder nur das Telephon und der Plan einer fiktiven Ehe. Viele von ihnen haben Wertgegenstände — Bilder, Schmuck — zu Hause zurücklassen müssen und suchen nun Mittel und Wege, die Sachen in den Westen zu schmuggein, um sie hier zu verkaufen. Ein Ikonengeschäft in der Herrengasse wird häufig aufgesucht, Preise werden in Dollars umgerechnet, denn der Dollar ist die einzige Währung, die den Russen halbwegs geläufig ist. Fast alle sind sehr erstaunt über die hohen österreichischen Preise für Kleidung, Bücher, Schallplatten. Sie haben noch nicht gelernt, billig einzukaufen. Auch das Taxifahren, das in Rußland billig ist und für sie zu einer festen Gewohnheit geworden ist, können sie sich nur schwer abgewöhnen.

Fast kein Emigrant besitzt einen Stadtplan. Sie wissen nicht, daß es so etwas überhaupt gibt, denn in Rußland werden aus Geheimhaltungsgründen keine genauen Stadtpläne gedruckt. Sprachschwierigkeiten, Geldmangel und die allgemeine Unkenntnis westlicher Lebensverhältnisse machen es ihnen fast unmöglich, in Wien irgend etwas zu unternehmen. Die beiden Flüchtlingsorganisationen, die offiziell mit der Betreuung der Emigranten befaßt sind, kümmern sich wenig bis gar nicht um ihre Schützlinge. Kennzeichnend für die Situation ist zum Beispiel, daß in keiner Organisation auch nur ein Russisch-Dolmetscher vorhanden ist. Die Organisationen zahlen den Emigranten zwar Englischkurse, wo und wann diese stattfinden, haben die Emigranten allerdings selbst herauszufinden.

Die Emigranten stellen immer wieder fest, wie positiv es sei, daß der einzelne im Westen persönliche Initiative entfalten könne, sind aber selbst ganz unfähig, hier eine eigene Initiative zu ergreifen, hauptsächlich wegen der Sprachschwierigkeiten. Da sich die meisten von ihnen schon lange, mindestens ein Jahr vorher, zur Ausreise entschlossen haben, ist es einigermaßen verwunderlich, warum sie nicht schon zu Hause Sprachstudien getrieben haben. Aus Rußland sind sie gewohnt, daß der Staat für sie sorgt — natürlich mehr schlecht als recht — und daß einem der große Freundeskreis über die kleineren Schwierigkeiten hinweghilft. In Wien sorgt allerdings gar kein Staat mehr für sie und auch der Freundeskreis ist sehr zusammengeschrumpft.

Die Emigranten stellen ständig Vergleiche an zwischen Situationen in Wien, etwa beim Straßenverkehr oder bei der höflichen Bedienung in Geschäften, und derselben Situation in Rußland — immer schneidet der Westen viel besser ab. Die Wiener erscheinen ihnen höflich, still und kultiviert, die Russen grob, laut undy unzivilisiert. Kommen sie aber in Wien zum Beispiel in eine weitläufige, schön eingerichtete alte Wohnung oder sonst in eine Umgebung, die ihnen gut gefällt, so entschlüpft ihnen nicht selten: „Ganz wie in Moskau!“ In Diskussionen versuchen sie sich gegenseitig zu überzeugen, daß „der Westen“ kulturell weit über Rußland stehe, daß die Leistungen der russischen Kultur im Vergleich mit dem Westen verschwindend klein seien, Rußland könne nur Panzer und Wodka exportieren, das russische Volk sei immer unterdrückt worden und werde sich auch weiter unterdrücken lassen, während der westliche Mensch ein freies Individuum sei. Die Kategorien „Gut und Böse“ hätten in der westlichen Welt eine viel größere Wirksamkeit als in Rußland ... Abgesehen davon, daß in den meisten Diskussionen der „Westen“ als völlig vager, undifferenzierter Begriff verwendet wird, beweisen diese Diskussionen nur, wie „russisch“ das Denken der Emigranten ist und wie wenig sie über den Westen wissen.

Sie kennen nur die Formen der Unterdrückung, die in der Sowjetunion praktiziert werden. Diese Formen sind hart und brechen oft wie schwere Schicksalschläge über den einzelnen herein, oder sie werden als ständige Beschränkungen der persönlichen Freiheit verspürt. Diese Unterdrückungsformen gibt es im Westen allerdings kaum. Daß es auch hier viele feingesponnene Formen der Repression gibt, die das Individuum an der Entfaltung seiner Persönlichkeit hindern, können sie natürlich nicht wissen und glauben es auch nicht. Den Bestrebungen aller möglicher Linker, welche mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in den kapitalistischen Ländern nicht zufrieden sind, stehen sie deshalb ablehnend und feindlich gegenüber. Die meisten der Emigranten, die nicht nach Israel gehen, wollen nach Amerika. Meist sind es hochspezialisierte Techniker oder Naturwissenschaftler. In Wien hören sie immer wieder, daß es schwierig sei, in Amerika eine entsprechende Stellung zu finden. Keiner von ihnen weiß, wie es ihm dort gehen wird, ob er sich schnell assimilieren können und eine gute Arbeit finden wird und ob ihm Amerika Rußland ersetzen kann.

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