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Digital In Arbeit

DOKTOR ROBOTER, BITTE IN DEN OP!

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Unter Virtual Reality (VR) - wörtlich „eigentliche Wirklichkeit" - versteht man eine hochspezifische Computersimulation, welche dem menschlichen Beobachter ein nahezu getreues Abbild eines Teils der „Außenwelt" vorgibt und ihn weitgehend in diese Vorspiegelung einbezieht (beziehungsweise das Ergebnis einer solchen Simulation) - also eine „scheinbare Realität". Hiefür werden als wichtigste „human interfaces" (Schnittstellen zwischen Mensch und Computer) der „data helmet" und der „data glove" verwendet.

Der „Datenhelm" ist eine Art augenbedeckender Hut, welcher ein kleines Farb-Display für jedes Auge, Kopfhörer und Sensoren enthält. Durch die Echtzeitberechnung beziehungsweise -darstellung des linken und des rechten Monitorbildes (koordinatenrelativiert und somit stereoskopisch) wird ein dreidimensionaler Eindruck vermittelt, welcher durch die sensorische Berücksichtigung der Kopibewegungen noch verstärkt wird: der Betrachter ist sozusagen „im Bilde" und kann in diesem herumblik-ken. (Die stereophone Klangerzeugung mittels „sound blaster" leistet schon heute jeder bessere PC.)

Datenhandschuh

Im „Datenhandschuh" befinden sich Sensoren für die Hand- und Fingerbewegungen des Probanden. Mit diesem ist es also beispielsweise möglich, ein in das Bild elektronisch eingeblendetes Steuerpult zu bedienen, um sich etwa in dem scheinbaren Raum zu bewegen oder einen anderen zu betreten.

Es versteht sich von selbst, daß für solche illusionsvermittelnden Abläufe enorme, massiv-parallele Rechenleistung benötigt wird, deren Kenndaten im Giga-Hertz-, Giga-Flops-und - derzeit noch - „Mega-Dollar"-Bereich angesiedelt sind1'.

Drei willkürliche Anwendungsbeispiele mögen die Vorteile der VR illustrieren:

□ In der medizinischen Forschung könnten Anatomie und Chirurgie an

virtuellen Körpern trainiert werden, welchen mit ebensolchen Skalpellen zu Leibe gerückt wird. Jüngsten Berichten zufolge ist der „Chirurgie-Roboter" bereits Realität: Der Arzt, der aus irgendwelchen Gründen nicht in loco sein kann, steuert aus der Entfernung ein Gerät, welches den Patienten „operiert". Zur VR-Appli-kation ist es dabei nur mehr ein kleiner Schritt - komplizierte chirurgische Eingriffe werden dann zum Beispiel in einer VR-dargestell-ten Bauch-

höhle oder einem Gehirn immer wieder geübt, bis sie dem Operateur sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Die schon heute angewandten, verblüffenden Methoden der dreidimensionalen Endoskopie und Kernspinresonanz-Tomographie lassen die Zukunftsvision erst recht in - buchstäblich - „greifbare Nähe" rücken.

□ Architekten würden virtuelle Gebäude entwerfen, in diesen herumgehen, mit den akustischen Konsequenzen verwendeter Materialien und mit den optischen Auswirkungen verschiedenen Lichteinfalls experimentieren können. Derartige Video-Simulationen gibt es bereits, allerdings nicht in Echtzeit und noch ohne eine VR-induzierte Einbeziehung des Beschauers, welcher derzeit nur eine rela-

tiv passive Rolle spielen kann (siehe dazu auch nebenstehenden Beitrag). □ Einem Führerscheinkandidaten wird die Formel v = V2gh möglicherweise nur wenig sagen - doch in einem virtuellen Fahrzeug, welches mit 50 Stundenkilometern frontal gegen eine virtuelle Mauer fährt, mag er rasch erkennen, daß man einen diesem Aufprall entsprechenden Sturz

aus knapp zehn Meter Höhe schwerlich mit den Händen abfangen kann und man in der Praxis besser den -dann allerdings realen, nicht-virtuellen! - Sicherheitsgurt anlegt.

Die hohen Kosten von VR-Appli-kationen, sowohl was deren Software-Entwicklung als auch das benötigte Hardware-Environment betrifft, lassen einen Mißbrauch vorerst eher unwahrscheinlich aussehen.

Dennoch sind gewisse Horrorvisionen denkbar: □ Mit Hilfe eines data suits, also eines Ganzkörper-Interfaces (welches bereits in Entwicklung ist), könnte man vollständig in eine Scheinwirklichkeit eintauchen -folglich in dieser auch einen virtuellen Mord begehen oder mit einem virtuellen Partner zusammen sein. Man denke hierbei an die sattsam bekannten snuff Videos („Mord-Pornos"), die dann für den Betrachter - besser gesagt, Täter - auf erschreckende Weise quasi realisiert werden könnten.

□ Schon heute gibt es Freizeiteinrichtungen, in denen der mehr oder weniger verspielte Konsument auf Motorrad-Simulatoren „fahren" oder in einem Kampfszenario „Feinde abschießen" kann. Die Weiterentwicklung auf Basis VR wird nicht lange auf sich warten lassen, und die realistische Integration des homo ludens in seine persönliche Scheinwirklichkeit birgt die große Gefahr der Sucht in sich - auch nach dem „intensiver" und „brutaler".

□ Es war einmal die Bassena... Diese Art „Dorfbrunnen als Kommunikationszentrum" ist praktisch verschwunden, und Wohlstand, Streß und Massenmedien - allen voran das Fernsehen - haben die Menschen einander entfremdet. In seinem Buch „Die magischen Kanäle" definiert der kanadische Kommunikationsforscher Marshall McLuhan „kalte" und „heiße" Medien:

Ein kaltes Medium (zum Beispiel die Sprache als solche, das Telefon, der Brief) erfordert in hohem Grade

persönliche Beteiligung zum Erzielen eines „Detailreichtums", eines -gegebenenfalls interaktiven - Verständnisses. Im Gegensatz dazu verlangt ein detailreiches, heißes Medium wie das Fernsehen dem Benutzer kaum ein starkes inneres Engagement ab, um die Botschaft zu verstehen, und kommunikationshemmend ist die Television ohnehin.

Werden wir uns an dem überhitzten Medium Virtual Reality die Finger verbrennen?

Als Reaktion auf eine entfremdete, häßliche Umwelt ist in den USA der Trend des Cocooning entstanden, die selbstgewählte Abkapselung allein oder bestenfalls im Familienkreis. Was läge näher, als sich mit VR eine intakte Scheinwirklichkeit zu generieren, die man tunlichst nicht mehr verläßt? Es gibt immer mehr Berufe, zu deren Ausübung man keine stundenlangen Fahrtzeiten mehr in Kauf nehmen muß (was ja prinzipiell nichts Negatives ist), weil man zum Beispiel mit seinem Büro über eine Datenleitung Kontakt hält.

Wehret den Auswüchsen

Mittels Bildschirmtext und Telebanking kann man bereits jetzt mit der Außenwelt kommunizieren. „Kommunizieren"?

Die Gefahr der menschlichen Vereinsamung steigt auf jeden Fall mit einer potentiellen „Virtual Reality für den Hausgebrauch" noch stärker an, als sie es sowieso schon tut.

Die Jurisprudenz hat einen Hans Kelsen und einen Roland Freisler hervorgebracht, und Medizin ist von Lorenz Böhler und von Josef Menge-le betrieben worden. Es gibt keine „gute" oder „schlechte" Wissenschaftsdisziplin, doch wir werden in naher Zukunft (zehn bis 15 Jahre) lernen müssen, mit VR richtig umzugehen.

Non principiis, sed vitiis obsta! Der Autor ist Informatiker. "Die angegebene Frequenz entspricht der CPU-Taktrate, und FLOPS steht für floating point Operations per second, eine Maßzahl für die Computergeschwindigkeit, bezogen auf spezielle numerische Operationen.

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