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EINE MILLION

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Vor wenigen Wochen wurde in Österreich der zweihundert- ” fünfzigtausendste angemeldete Fernsehempfänger in Betrieb genommen. Bemerkenswert daran ist aber nicht nur die runde Zahl — um derentwillen der Besitzer dieses Gerätes vom Österreichischen Rundfunk stürmisch gefeiert wurde —, sondern auch die rasche Zunahme der Teilnehmerzahl, die alle, auf Grund der Entwicklung in anderen Ländern gemachten Vorhersagen übertroffen hat. Die Schweiz, die schon einige Jahre länger „fernsieht , wurde bezüglich der Teilnehmerzahl von Österreich schon längst überrundet.

Man wird sich hoffentlich auch bei den zuständigen Stellen des Fernsehens darüber im klaren sein, daß diese rasche Entwicklung nicht ausschließlich in der Beliebtheit des Fernsehprogrammes begründet ist. Es soll in unserer wirtschafts-wunder- lichen Zeit des öfteren Vorkommen, daß Dinge wie Fernseher, Waschmaschine und sogar Auto vorwiegend oder gar ausschließlich deshalb gekauft werden, weil „man“ eben heute diese Dinge hat. Das ändert natürlich nichts an der Bedeutung der hohen Teilnehmerzahl. Denn auch derjenige, der sich den Fernsehempfänger primär nicht um des Fernsehens willen kauft, wird der Faszinationskraft des neuen Massenmediums verfallen.

7weihunderfünfzigtausend Fernsehempfänger, das bedeutet aber " noch mehr: Da erfahrungsgemäß vor jedem Empfänger im Durchschnitt vier Zuschauer sitzen, haben wir heute in Österreich bereits eine Million potentionelle Fernsehzuschauer! Wenn sämtliche Empfänger eingeschaltet sind, dann sitzt eine Million Menschen vor den Bildschirmen. Ein großes Uraufführungskino müßte ein Jahr lang täglich drei ausverkaufte Vorstellungen geben, um die gleiche Anzahl von Zuschauern zu erfassen!

Wie viele Geräte nun tatsächlich jeweils in Betrieb sind, hängt natürlich von der betreffenden Sendung ab. Leider hat man es bei uns bisher nicht für nötig gefunden, regelmäßige, eingehende Zuschauerbefragungen durchzuführen, wie das in anderen Ländern längst selbstverständlich ist. Nur auf diese Weise könnte man einen Überblick über die tatsächliche Beliebtheit der einzelnen Sendungen bekommen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, sich aus den Zuschriften von Zuschauern an das Fernsehen auch nur annähernd ein richtiges Bild machen zu können. Denn die Briefschreiber rekrutieren sich doch aus einem ganz bestimmten, relativ kleinen Personenkreis, der keineswegs für die Gesamtheit der Zuschauer repräsentativ ist.

Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als einen Blick auf die Ergebnisse der Befragungen zu werfen, die „infratest“ in der Deutschen Bundesrepublik und Berlin durchführt. Dabei soll gar nicht das Urteil der Zuschauer berücksichtigt werden, das bei diesen Befragungen auch ermittelt wird, sondern nur die Sehbeteiligung, also der Prozentsatz der Fernsehteilnehmer, die sich die betreffende Sendung tatsächlich angesehen haben.

Diese Zahlen, die ja ein Maß für das Interesse darstellen, das einer Sendung entgegengebracht wird, sind sehr aufschlußreich.

Die deutsche Fernsehfamilie, die Familie Schölermann, erreichte meist Werte um 90 Prozent, die Tagesschau (unserer „Zeit im Bild“ entsprechend) solche zwischen 60 und 70 Prozent. Die Unterhaltungssendungen von Kulenkampff und Frankenfeld erreichten Sehbeteiligungen bis zu 91 Prozent, die Perry- Como-Show kam selten über 20 Prozent hinaus. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß der erste Teil der Toon- Hermans-Ein-Mann-Schau eine Sehbeteiligung von 57 Prozent, der zweite Teil nur mehr eine von 38 Prozent aufwies. Sportsendungen finden keineswegs immer das breite Interesse, das ihnen nachgesagt wird: Das Fußballänderspiel Deutschland gegen Nordirland sahen 49 Prozent der Zuschauer, die einzelnen Übertragungen von der Radrundfahrt der Berufsfahrer nur 5 bis 21 Prozent. Anspruchsvolle Fernsehspiele werden etwa von der Hälfte der Zuschauer gesehen (Fast ein Poet: 53 Prozent, Prinz Friedrich von Homburg: 47 Prozent, Der Mann von drüben: 57 Prozent) — in einzelnen Fällen auch von wesentlich mehr (Elisabeth von England: 75 Prozent) -. während die Filmberichte „Bilder aus der Neuen Welt“ bis zu 79 Prozent Sehbeteiligung erzielen.

Selbstverständlich haben auch Sendungen mit geringer Sehbeteiligung ihre Berechtigung, wenn sie nur gut sind und die dafür interessierten Zuschauer wirklich ansprechen. Anderseits zeigt sich aber, daß es Sendungen gibt, bei denen 90 öder mehr Prozent der Fernsehempfänger eingeschaltet sind, die also — wir können diese Tatsache wohl auf österreichische Verhältnisse übertragen — bereits heute allein bei uns tatsächlich annähernd eine Million Zuschauer vor den Bildschirmen vereinen.

"C1 ine Million Zuschauer, das bedeutet aber auch eine noch größere Anzahl von „Leidtragenden“. Leidtragende insoferne, als diese in ihrer Eigenschaft als Nichtfernseher dem Fernseh- t o n der Nachbarn hilflos ausgesetzt sind. Das Fernsehen hat zwar den Vorteil, daß das Bild über die eigenen vier Wände nicht hinausdringen kann, dabei aber den Nachteil, daß man im Banne des Bildes viel leichter die Kontrolle über die Lautstärke verliert als beim Rundfunkhören. Menschen, die einigermaßen darauf bedacht sind, ihre Nachbarn nicht durch zu große Lautstärke ihres Radios zu stören, lassen ihren Fernsehempfänger dröhnen, daß die Wände wackeln, weil sie von dem Zusammen-

wirken von Bild und Ton so gefangen sind, daß es ihnen gar nicht auffällt, wenn die Zimmerlautstärke auch weit überschritten ist.

Hier ergibt sich für das Fernsehen die unabdingbare Aufgabe, seine Zuschauer immer wieder daran zu erinnern, ihre Geräte auf Zimmerlautstärke einzustellen, nicht nur nach 22 Uhr und nicht nur in unverbindlich-einladendem Ton, sondern allen Ernstes und mit größter Deutlichkeit. Auch für einen Fernsehteilnehmer ist es mehr als unerfreulich, wenn er eine Sendung, die er nicht sehen will, nun durch Wände oder Decke hindurch aus dem Gerät seines Nachbarn hören muß.

Eine Million Zuschauer, das bürdet aber auch den maßgeblichen Mitarbeitern des Fernsehens eine entsprechend große Verantwortung auf.

Es ist nicht zu vermeiden, daß das Fernsehen auch dem Wunsch nach Unterhaltung nachkommt. Aber die Möglichkeiten der Unterhaltung sind heute so zahlreich, daß es nicht die Aufgabe des Fernsehens sein kann, seichteste Unterhaltung an den größten Publikumskreis heranzutragen. Hingegen fällt gerade dem Fernsehen (weil es die größte Wirksamkeit erzielt) die Aufgabe zu, der Oberflächlichkeit und der Entgeistigung unserer Zeit die Stirn zu bieten. Interessant sind in diesem Zusammenhang einige Gedanken, die der frühere dänische Minister Christiansen kürzlich in der Zeitschrift „Radio und Fernsehen" geäußert hat. Das Fernsehen, meint er, sei ein Angebot, Kenntnisse zu erwerben, sich an künstlerischen Genüssen zu erfreuen, sich zu entspannen und das auszuwählen, was man braucht. Das Fernsehen könnte ein wirksames Instrument für konstruktive Reformbestrebungen auf sozialem Gebiet werden. Das Überhandnehmen der aktuellen Sendungen über die kulturell betonten bedeute eine Gefahr: Es sei nicht Aufgabe des Fernsehens, Sensationen zu bieten, sondern zur Erweiterung der Kenntnisse anzuregen und bei der Persönlichkeitsentfaltung zu helfen. Mögen die Fernsehgewaltigen in aller Welt stets an diese Mahnung denken!

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